„Ein Ende finden und den Anfang in den Händen halten“
Hanspeter Rings (*1955)
11. Brief
05.12.2024
Lieber Freund,
früh am morgen verließen wir Bitola. Wir kamen im Regen, wir gingen im Regen und Nachts trommelte er unermüdlich auf unser Dachfenster. Tageshöchsttemperatur 4 Grad. Es kann ganz schön ungemütlich werden auf dem Balkan, das hatte ich so nicht erwartet. Bitola, wie schön dieser Name klingt, war nicht mehr und nicht weniger als eine kurze Rast. Für eine Nacht. Als solche wird die Stadt uns in guter Erinnerung bleiben. Wir schliefen gut in einem warmen Zimmer unter dem Dach. Wir tranken eine Flasche mazedonischen Wein und teilten uns eine Pizza. Wir haben uns nicht mal die Mühe gemacht, Wissen über die Stadt zusammenzutragen. Weißt Du, lieber Freund, das Reisen mit Bus und Bahn ist viel anstrengender als zu Fuß. Sieh nur, würde ich von Skopje nach Bitola laufen (es sind etwa 200 km) würde das etwa 10 Tage dauern. Drei davon kann ich mich mit Skopje beschäftigen, drei mit Land und Leuten und der Geschichte Mazedoniens und während ich Bitola schon am Horizont sehe, habe ich noch weitere drei Tage, mich mit dieser Stadt auseinanderzusetzen. Gestern düste ich von Prizren über Skopje nach Bitola. Wie ein Paket wurde ich verschickt. Alles an einem Tag. Was soll ich denn alles lesen, recherchieren, verinnerlichen und mit der Wirklichkeit abgleichen? Das ist ja viel zu viel. Nun höre ich Dich sagen: „Warum die Eile? Bleibe doch ein paar Tage in Skopje oder in Bitola.“ Recht hast Du, aber gemeinsames Reisen ist immer auch ein Kompromiss. Robert möchte so gerne in sein geliebtes Pyrgos. Möchte dort endlich ankommen und jede Minute nutzen. Ich verstehe seine Unruhe und deshalb kann ich ihr nachgeben und habe nicht das Gefühl, etwas Wichtiges zu verlieren. Ich freue mich, wenn es ihm gut geht. Im Gegenzug schenkt er mir dann einen Extratag in Albanien.
Bitola ist die südwestlichste Stadt in Mazedonien und liegt wenige Kilometer von der griechischen Grenze entfernt. Eine EU Außengrenze. Auf der anderen Seite liegt Florina. Und da müssen wir heute hin, denn von dort fährt ein Zug nach Thessaloniki und weiter nach Athen. Diese ersten 30 km entpuppten sich als die Schwierigsten und Bedrückendsten dieser Tagesetappe. Es gibt keinen grenzüberschreitenden, öffentlichen Verkehr. Kein Bus fährt und auch kein Zug (obwohl die Gleise intakt sind). Die einzige Option, das Taxi, erweist sich ebenfalls als unbrauchbar, weil diese auch nicht über die Grenze fahren dürfen. Und das ist nicht eine Erfindung der makedonischen, sondern der griechischen Regierung (umgedreht dürfen griechische Taxis problemlos hin und her fahren). Was also tun? Eine Möglichkeit ist es, eins der vielen Schwarztaxen zu nehmen. Die sind ja als solche nicht gekennzeichnet. Allerdings sind die Fahrer arme Schlucker und haben in der Regel keinen Pass. Die zweite Möglichkeit geht so: wir steigen in ein offizielles Taxi. Kurz vor der Grenze, an einer Tankstelle, werden alle Taxi-Schilder abgebaut und bei einem befreundeten Tankwart deponiert. Wir werden eindringlich instruiert, wie wir uns zu verhalten haben. Dejan, der Fahrer, ist ab sofort unser Freund und bringt uns nach Athen. Bloß kein Wort von Taxi oder so. An der Grenze wird es dann spannend. Ob sie uns durchlassen? Dejan ist sehr nervös. Aber was soll uns schon passieren? Im schlimmsten Fall muss er umkehren und wir trampen weiter nach Florina. Vielleicht nimmt uns ja ein Brummifahrer mit. Na das wäre ein Spaß. Im Endeffekt verlief alles reibungslos. Trotzdem frage ich mich, was dieser Quatsch soll. Was läuft denn da schon wieder schief? Irgendetwas habe ich gehört, dass die Griechen nicht mit der Namensgebung einverstanden sind. Makedonien ist eine historische Region, die länderübergreifend war. Oder es ist wieder dieser nationalistische Kack. Die einen sind Slawen und die anderen Griechen und da gibt es seit Jahrhunderten Spannungen.
Mein lieber, lieber Freund! Ich sitze nun im ICE nach Athen. Draußen ist es schon lange dunkel. Ab und zu flitzen die Lichter der Siedlungen vorbei. Es ist ein schöner Zug. Bequem, warm und mit einem Speisewagen. Es ist der letzte Zug unserer Reise, es ist unser letzter Reisetag und auch mein letzter Brief an Dich. Und während ich das schreibe, verspüre ich einen Kloß im Hals. Schon vorbei. Was haben wir nicht alles erlebt. Du und ich. In Budapest sind wir über sieben Brücken gegangen und haben zum ersten Mal mit dem Phänomen Großstadt gehadert. Wir haben das Jugendstilwunder Subotica bestaunt und in einem der vielen Kaffeehäuser der Stadt eine russische Schokolade genascht. In Belgrad erwachte in uns der Fluchtinstinkt. Und erinnerst Du Dich an die aufregende Nacht in Titos Zug? Die vergesse ich nie. In Shkodar begegnete ich zum zweiten Mal meinem albanischen Wunder und aus dem flüchtigen Verliebtsein wurde Liebe. In Prizren waren wir herzlich willkommen und fanden traurige Geschichte.
Immer warst Du dabei. Hast mir zugehört, mitgefiebert und Dich manchmal ein bisschen gesorgt. Mein guter Freund. Ich bedanke mich für Deine Treue, Deine Geduld und Dein Mitgefühl. Weißt Du was, ich lade Dich jetzt in den Speisewagen ein. Bist Du dabei? Wir stoßen an mit einem Glas griechischen Wein. Auf die Reise, auf uns und auf ein Wiedersehen in der Wirklichkeit. Da sitzen wir vor dem Laden, trinken Wein und diskutieren die Lage der Nation. Wir machen zusammen Musik und frönen unserer Leidenschaft, dem Segelfliegen. Wir schmieden Pläne für die Zukunft und erfüllen uns Wünsche. Ich freue mich sehr darauf.
Yammas! Auf unser Wohl.
Deine M.
So, altes Haus, auch der Korrekturleser sagt Auf Wiedersehen im März. PS: Mit dem Speisewagen wurde es aufgrund der Überfüllung nichts und augenblicklich sitzen wir ohne Strom im dunklen ICE. Abenteuer über Abenteuer. Nun tritt Plan B in Kraft. Wir gehen die restlichen 200 Km nach Pyrgos – ZU FUSS!
Alles Gute wünscht Robert
Foto: Bahnhof Skopje
Je üppiger die Pläne blühen, um so verzwickter wird die Tat.
Erich Kästner (1899-1974)
10. Brief
04.12.2024
Lieber Freund,
heute schreibe ich Dir aus dem Zug nach Bitola. Gemütlich zuckelt er vor sich hin, hält an jeder Milchkanne und transportiert echtes makedonisches Leben. Schüler kehren heim von einem Wandertag in die Hauptstadt. Arbeiter verteilen sich ins Umland. Eine Kleinfamilie mit Oma unterhält den Waggon. Die drei kleinen Kinder marodieren quengelnd über Tische und Bänke. Die meisten reisen mit einem Beutelchen. Nur wenige haben einen Koffer oder einen Rucksack, der sie als Reisende auszeichnet. Einen großen Satz in den Süden haben wir heute gemacht. Du weißt ja sicherlich mittlerweile, wo Bitola liegt. Genau. Im Südosten Nordmakedoniens. Eine Grenzstadt nach Griechenland. Früh sind wir in Prizren aufgebrochen. Ganz aufgeregt war er, mein Hahn, war sich sicher, dass schon der erste Teil des Planes, mit dem Bus nach Skopje zu gelangen, zum Scheitern verurteilt war. Ich weiß auch nicht, was er sich da gedacht hat. Dass der Bus gar nicht erst kommt, weil der Fahrer noch betrunken ist? Oder das sich eine riesige Menschentraube um das Gefährt drängelt und wir am Ende nicht mitkommen? Nichts von all dem trat ein. Der Bus fuhr pünktlich ab und außer uns saßen noch sechs andere Menschen drin. Ich wusste, dass es klappt. Ich hatte doch einen Plan. Meinen Plan. Was denkst Du über Pläne, lieber Freund. Reisepläne, Lebenspläne? Frei nach „mächtig gewaltig Egon“ liebe ich das Schmieden kleiner und großer Pläne und freue mich diebisch wenn es aufgeht. Das Geheimnis für das Gelingen liegt, meiner Meinung nach, in zwei Dingen. Erstens, die genaue akribische Recherche. Wann und wo fährt der Bus, wo gibt es Fahrkarten, wie lange fährt der Bus und wie sind die Gepflogenheiten des Landes. Dazu gibt es das Internet, falls man nicht weiter kommt: fragen, fragen, fragen – hartnäckig und wenn die Sprache nicht reicht – radebrechen. Trotzdem bekommt man auf diese Weise nicht immer alle Informationen und nun kommt die zweite Sache ins Spiel. Ich lasse Räume. Zeitliche Räume aber auch Gestaltungsräume die Improvisationen zulassen. Den Plan also auf keinen Fall zu eng stricken. Nicht in Hektik geraten. Und immer noch Plan B und C in der Tasche haben. Es war unmöglich im Vorfeld herauszubekommen, ob und wann ein Zug von Skopje nach Bitola fährt. Aber was stört mich das, wenn ich schon am Mittag in Skopje ankomme. Da habe ich genügend Zeit, sämtliche Informationen zusammenzutragen. Und wenn es keinen Zug gibt, dann wird es schon einen Bus geben und falls der schon weg ist, dann nehme ich ein Taxi oder ich bleibe einfach noch eine Nacht in Skopje. Auf diese Art, lieber Freund, kann doch fast nichts schief gehen. Und wenn dann der Bus eine Panne hat oder der Zug kaputt geht, dann lasse ich schlagartig ab von all meinen Plänen und harre der Dinge, die da kommen. Wenn der Plan aufgeht, so wie heute: da kamen wir Punkt 12 in Skopje an, direkt vor dem Hauptbahnhof und brachten in Erfahrung, dass der nächste Zug nach Bitola um 14:30 Uhr fährt … lieber Freund, da kannst Du mich strahlen sehen. „Mächtig, gewaltig Egon“.
Ich kann aber auch gut verstehen, dass dies nicht jedermanns Sache ist. Das „in den Tag hineinleben“, der Dinge harren die da kommen, neugierig und aufmerksam sein, sich nicht die Fesseln eines Planes anlegen, das Leben geschehen lassen – das mag ich auch manchmal sehr. Allerdings nicht, wenn ich weite Entfernungen zurücklegen möchte oder wichtige Lebensentscheidungen zu treffen habe. Wie denkst Du darüber, lieber Freund? Findest Du Pläne eine sichernde Bereicherung oder eine einengende Fessel?
Heute waren es mal wieder, wie so häufig, die vielen kleinen Begebenheiten, welche mich berührt haben. Ich habe keinen 3000er bestiegen, habe keinen Sechser im Lotto gewonnen, wurde auch nicht zur Miss Makedonien gekrönt und bin trotzdem froh. Eine Begebenheit will ich Dir mal erzählen. Der Bus machte eine Rast in einer kosovarischen Kleinstadt. Hielt an einem völlig abgewirtschafteten Busbahnhof. 10 Minuten Pause war die Ansage, oder vielleicht nur 5? Genau habe ich das nicht verstanden. Ich also raus und ab auf die Toilette. Das war dringend nötig. Ein kleines, altes Toilettenmännchen wies mir den Weg. Und in dieser ganzen Hektik und vor lauter Eile habe ich gepatzt. Habe erst eindeutig zu spät festgestellt, dass es überhaupt kein Klopapier in der Kabine gibt. Siedendheiß überlief es mich. Kennst Du dieses Gefühl? Noch während ich hastig meine Taschen nach einem alten Taschentuch durchsuchte (erfolglos) und fieberhaft überlegte, wie ich nun raus komme aus der Nummer, wedelte das Toilettenmännlein mit einer schneeweißen Rolle Klopapier unter dem Türschlitz herum. Erleichtert ergriff ich den Strohhalm. Der rettende Engel hat von mir ein fürstliches Trinkgeld bekommen. Und noch eine Kleinigkeit. Der Bus hielt an der makedonischen Grenze. In den Bergen. Alle mussten raus. Es war eiskalt und nebelig, dass man kaum die Hand vor Augen sah. Die Stimmung ähnelte dem an einem DDR Grenzübergang mit Tischgestellen aus Metall, wo man unter Umständen gezwungen war sein ganzes Hab und Gut auszupacken. Gespenstisch. Fröstelnd standen wir in dieser Unwirtlichkeit brav in Schlange vor einem Grenzhäuschen. Darin saß ein finsterer Gesell. In Uniform, und mit Wumme. Mit eiserner, verschlossener Miene arbeitete er ohne aufzusehen einen Pass nach dem anderen ab. Als ich an der Reihe war, lächelte ich ihn hemmungslos an. Ich hatte ihn beobachtet. Er gefiel mir so gut in seiner Ernsthaftigkeit. Und weißt Du was, lieber Freund? Er lächelte zurück. Für den Bruchteil einer Sekunde und kaum merklich ließ er sich erweichen. Er drehte meinen Ausweis hin und her. Mir wurde schon himmelangst und bange. Bei den Anderen ging das viel schneller. Und dann flüsterte er, ohne mich anzusehen meinen Vornamen: „Martina“ und gab mir meinen Ausweis zurück. Für einen winzigen Moment hörte die Erde sich auf zu drehen. Kam Wärme in diese unwirtliche Umgebung und auch in mein Herz.
Lieber Freund, wir haben nicht mehr viel Zeit. Wenn alles gut geht, dann sind wir morgen Abend in Thessaloniki. Dann ist die Reise bald zu Ende. Ich schreibe Dir aber auf jeden Fall noch einmal. Wir müssen uns doch voneinander verabschieden.
Deine M.
"Ich lehne Gewalt ab, denn der Nutzen ist vorübergehend, der Schaden aber dauerhaft." Mahatma Gandhi (1869-1948)
9. Brief
03.12.2024
Mein lieber Freund,
gestern sind wir im Kosovo angekommen und wir wurden auf das Herzlichste empfangen. Schon in der Wartehalle des heruntergekommenen Busbahnhofes aus Titos Zeiten grüßte eine Gruppe Halbstarker fröhlich herüber und auf der Straße warf man uns immer wieder ein fröhliches „Hallo“ zu, wahrscheinlich inspiriert durch unsere großen Rucksäcke. Ein kleiner, schwarzer Straßenhund mit krummen Beinchen nahm uns schwanzwedelnd in Empfang und begleitete uns die 2 km bis ins Stadtzentrum. Er hat gut auf uns aufgepasst an jedem Fußgängerüberweg. So ein liebes Tierchen. Robert sagt, er wollte nur etwas zu Fressen haben, aber das stimmt nicht, er hatte ein ordentlich rundes Bäuchlein. Während der „Orientierungsphase“, (erinnerst Du Dich, was damit gemeint ist?) saßen wir bei Kaffee und Raki (der albanische Klassiker) in einer verräucherten Bar und ehe wir uns versahen, standen zwei weitere Gläschen mit der hochprozentigen Spezialität auf unserem Tisch. Die hatten wir nicht bestellt, wir sind doch nicht wahnsinnig, die Sonne ist ja noch nicht einmal untergegangen. Während ich das Glas an die Lippen hob, schaute ich mich suchend im Raum um. Aus einer Gruppe albanischer Männer am Stehtisch in der Ecke des Raumes lachte mich ein fröhliches, zerfurchtes Gesicht an. „Herzlich willkommen“ schien es zu sagen. Ich nickte ihm lächelnd zu „Danke, lieber Fremder, auf Dein Wohl“... und hinter die Binde mit dem Feuerwasser.
„Gutes, tapferes Volk“, dachte ich, während mir die Flüssigkeit wie Feuer die Kehle hinab rann „was musstet ihr erdulden und erleiden im sogenannten Kosovokrieg, der gerade Mal knapp 25 Jahre zurückliegt“. Ich will Dir ein wenig davon berichten, lieber Freund.
Das Jugoslawien unter Tito bestand aus sechs Republiken und zwei autonomen Provinzen, welche zu Serbien gehörten. Kriegst Du alle zusammen? Slowenien, Kroatien, Bosnien mit der Herzegowina, Montenegro, Mazedonien und Serbien mit den autonomen Provinzen Vojvodina im Norden und dem Kosovo im Süden. Tito hatte per Verfassung allen Ethnien die gleichen Rechte zugesichert und das funktionierte auch. Praktisch sah das so aus, dass alle Ämter in Judikative und Legislative anteilig mit Vertretern der Völker besetzt waren. Sogar die Roma, heute die Vergessenen, hatten einen eigenen Radiosender. Wie Du vielleicht weißt, haben sie keine geschriebene Sprache. Nach Titos Tod und dem Fall des Eisernen Vorhangs brach ein großer Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien aus. Die Serben unter Milošević, die sich als das Restjugoslawien verstanden, kämpften verbittert um ihren Einfluss. Erst gegen Slowenien, dann gegen Kroatien, dann gegen Bosnien. Du erinnerst Dich sicher an das Massaker von Srebrenica und das Versagen der Blauhelme. Und dann ging es dem Kosovo an den Kragen. In der ehemals serbisch, autonomen Provinz regten sich Unabhängigkeitsbestrebungen. So erklärte man kurzerhand den Kosovo als die Wiege des Serbentums. Irgend einen Ort an dem angeblich im 11. Jahrhundert irgend eine Schlacht geschlagen wurde, über die man nur in speziellen Geschichtsbüchern etwas lesen kann? Kommt uns das nicht irgendwie aus dem Ukrainekonflikt bekannt vor, lieber Freund? Kurzerhand erklärte man den Punkt in der Verfassung Titos für ungültig, welcher die Gleichberechtigung der Ethnien regelt. Dazu erfand man eine Massenvergewaltigung von serbischen Frauen durch albanische Männer, die so nie stattgefunden hat. Man machte die Albaner, welche im Kosovo die absolute Mehrheit der Bevölkerung ausmacht, zu Menschen zweiter Klasse. Entließ sie aus den Ämtern, entließ die Richter, schloss die Schulen, Universitäten und Krankenhäuser, in denen albanische Ärzte, Professoren und Lehrer arbeiteten. Aber sie ließen sich nicht unterkriegen und gingen in den Untergrund. Unter ihrem Präsidenten, dem Pazifisten Ibrahim Rugova, Symbolfigur des gewaltfreien Unabhängigkeitskampfes der Kosovo-Albaner, entstand ein Schattenstaat mit einem Rechts- und Steuersystem, mit Schulen, Krankenhäusern und Universitäten. Auch die große Diaspora der Kosovoalbaner bezahlte drei Prozent ihres Einkommens an diesen Staat. Und Rugova predigte Gewaltlosigkeit. Er sah die Gefahr. Die Serben warteten doch nur auf den Anlass endlich loszuschlagen. Lange harrten sie aus, die friedlichen Leute, während die Serben es immer ärger trieben. Aus fadenscheinigem Grund wurden Dörfer niedergebrannt, albanische Menschen irrten durch ihr Land auf der Suche nach einem neuen zu Hause. Rugova suchte verzweifelt nach Hilfe in Europa und auf der Welt. Allein niemand kam. Das war auch die Zeit in der die albanisch-nationalistische UCK erstarkte. Eine paramilitärische Einheit, zum großen Teil finanziert mit Geldern von Kosovoalbanern aus Deutschland. Schwarzes Geld, Geld aus dem Drogenhandel. Sie besorgten sich Waffen, bildeten Leute aus in Albanien. Auch im Kosovo wurden nun Stimmen nach einer gewaltsamen Befreiung aus dem serbischen Würgegriff laut. Wer kann es denn verübeln? Wie viel Leid, wie viel Demütigung kann ein Volk ertragen?
Im Februar 1998 war es dann soweit. Die UCK griff von albanischer Seite an und „befreite“ ein Drittel des Kosovo. Darauf hatte die serbische Armee nur gewartet und das grässliche Morden wurde legitim. Im Handumdrehen eroberten sie alles zurück. Kein Stein blieb auf dem anderen. Dörfer wurden ausgelöscht, Massaker als Demütigung standen auf der Tagesordnung. 100.000ende flüchteten über die Grenzen zu Mazedonien und Albanien. Jetzt und erst jetzt wurde die NATO aktiv und griff in das Geschehen ein. Warum erst jetzt? Wo waren sie, als Rugova um Hilfe flehte? Man trieb die serbische Armee zurück, bombardierte Belgrad und im Herbst 1999 wurde die offene Auseinandersetzung weitestgehend eingedämmt. Die Unglücklichen kehrten zurück in ihre Heimat. Wütend und empört. Sie standen vor dem Nichts. Gewalt erzeugt immer Gegengewalt und es geschah das, was in diesem Fall unumgänglich ist. Der Zorn der Zurückgekehrten richtete sich gegen die Serben und die Roma. Letztere hatten sich mit den Serben gemein gemacht. Als Totengräber. Sie hatten die großen Kuhlen ausgeschaufelt, in welchen die Opfer der Tötungs-Exzesse geworfen wurden. Wieder brannten Häuser und Kirchen. Diesmal serbische. Und wieder erhob Rugova die Stimme. In einer eindrücklichen Rede an sein Volk bat er die Albaner um Frieden. „Ladet keine Schuld auf Euch, wir haben genug zu tragen“ so der Tenor seiner Ansprache. Und sie folgten ihm. Kehrten heim in die noch rauchenden Ruinen ihrer Dörfer und begannen mit dem Wiederaufbau.
Lieber Freund, ich erspare Dir die unrühmlichen nächsten Jahre, die auf die Kappe der EU geht in Form der „Rechtsstaatlichkeitsmission der Europäischen Union im Kosovo (kurz: EULEX Kosovo)“ Sie ist geprägt ist von Hoffahrt, Dummheit und Gier. Der gegenwärtige völkerrechtliche Status des Landes ist immer noch umstritten. Am 17. Februar 2008 proklamierte das Parlament die Unabhängigkeit des Territoriums. 115 der 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen erkennen die Republik Kosovo als einen unabhängigen Staat an. Weißt Du, lieber Freund, wie die Flagge des Kosovo aussieht? Ein blauer Untergrund. Blau als Farbe der Hoffnung und Bekenntnis zu Europa. Dann die Grenzen des Landes und sechs Sterne. Jeder Stern steht für eine Ethnie, welche im Kosovo lebt. Einer für die Albaner, einer für die Bosniaken, einer für die Türken, einer für die Roma, einer für die vielen Kleinstgruppen (Goranen etc.) und einer für die Serben. Die Bekenntnis zum friedlichen Miteinander auch nach Allem was geschehen ist. Eine Geste, die mir den allerhöchsten Respekt abgewinnt. Kannst Du nun verstehen, lieber Freund, mit wie viel Achtung ich diesem Volk begegne?
Prizren ist eine tolle Stadt. Du solltest unbedingt hierher kommen. Sie liegt wunderschön an Berghängen und ein wilder, lebendiger Bergfluss, nur mühsam eingefangen zwischen uralten Steinmauern, überspannt von alten Brücken, bildet das sprudelnde Zentrum der Stadt. Café reiht sich an Café. Es gibt ein interessantes Dokumentarfilmfestival und jede Menge historischer Bauten. Bunt durch die Jahrhunderte. Alte Moscheen, orientalische Hamam (Badehäuser) serbisch orthodoxe Kirchen aus dem 12. Jahrhundert, ein Kulturhaus aus der jugoslawischen Ära. Und das wichtigste, jede Menge durch und durch toleranter und großzügiger Menschen.
Lieber Freund, morgen ziehen wir weiter. Nach Bitola. Bekommst Du heraus, wo das liegt? Nimm doch mal wieder den Atlas zur Hand.
Auf bald in Bitola
Deine M.
"Schön ist eigentlich alles, was man mit Liebe betrachtet. Je mehr jemand die Welt liebt, desto schöner wird er sie finden."
Christian Morgenstern (1871 - 1914)
8. Brief
02.12.2024
Lieber Freund,
heute sind wir in den Kosovo weitergereist und die ganze Aktion firmiert erneut unter dem Motte: ein albanisches Wunder. Albanisch auch deshalb, weil im Kosovo mehrheitlich Albaner leben. Menschen mit den selben Wurzeln. Illyrer. Sie waren die ersten auf dem Balkan. Ab Shkodar und das war uns klar, verkehrt keine Eisenbahn mehr, jedenfalls im Moment. Gleise wachsen zu, Schwellen vermodern, Schranken verrosten. So nehmen wir also den Bus. Den Bus nach Prizren. Eine 85.000 Seelenstadt im Süden des Kosovo kurz hinter der albanischen Grenze. Du musst wissen, lieber Freund, dass das Reisen mit öffentlichen Verkehrsmitteln in Albanien anderen Gesetzmäßigkeiten folgt als denen, die uns bekannt und vertraut sind. Sie sind nicht schlechter, im Gegenteil, ich halte sie für die flexibleren und den menschlichen Bedürfnissen besser angepassten als unsere, streng der Uhr folgenden. Man muss sie nur verstehen. Lass es mich Dir erklären. Es ist ganz einfach, ein Ticket über das Internet zu buchen. Du bezahlst mit der Kreditkarte und schwupps hast Du den Barcode auf dem Smartphone. Allein wo der Bus abfährt und zu welcher Zeit ist ungenau. Da steht, er fährt an der „Buna Bridge“ und dass es ca. 10:30 losgeht, dass Du aber UNBEDINGT mindestens eine halbe Stunde vor Abfahrt da sein solltest. Ja wo denn bitte schön? Brücken über die Buna gibt es in Shkodar einige und warum soll ich eine halbe Stunde vor Abfahrt da schon rumstehen? Hilflos bestehe ich innerlich auf meinen Busbahnhof mit Bahnsteigen und blinkenden Anzeigetafeln, die über Abfahrtszeiten informieren. Abfahrtszeiten, wo ich mir sicher sein kann, dass der Bus zwar mitunter später, aber niemals früher startet. Es hilft kein Jammern und kein Klagen, der Reisende muss sich darauf einstellen. Andere Länder, andere Sitten. Also Mund auf und durchfragen. Wir werden ein Taxi nehmen, so ist der Plan. Der Taxifahrer weiß sicherlich Bescheid und es ist wirklich nicht teuer in Albanien. Aber der alte Taxifahrer spricht kein Englisch. Und noch während ich in meinen Googleübersetzer den Satz tippe: „Sehr geehrter Taxifahrer, wir möchten mit dem Bus nach Prizren im Kosovo fahren. Es muss eine Busstation an der Brücke über die Buna geben. Kennen Sie diese und würden Sie die Freundlichkeit besitzen uns dort hinzufahren“ klärt mein Hahn die Sache auf unwiderstehliche Art. Gewohnt wortkarg und präzise. Kosovo – Buna – Bus heißt das Zauberwort, welches ohne Adjektiv oder Verb auskommt. Das Gesicht des lieben Alten erstrahlt. Er klopft Robert freundschaftlich auf die Schulter und schwupps sitzen wir im Taxi (Der Korrekturleser merkt an, dass uns dieser Strauchdieb von lieben alten Mann uns für 3km 10 Euro aus der Tasche gezogen hat). Wenig später, eine Stunde vor der Abfahrt, stehen wir an einer Tankstelle, trinken Kaffee, hauen unsere letzten LEK auf den Kopf und harren der Dinge, die da kommen. Hoffentlich ist ein Bus dabei. Kurz nach zehn, also fast 25 Minuten zu früh, kommt er angerauscht. Ein winziger Bus für nur etwa 10 Personen. Eilig werden wir herein gebeten und weiter geht es. Nach nicht mal zehn Minuten Fahrt, wir haben gerade unsere Rucksäcke verstaut, die Jacken ausgezogen und die Thermoskanne ausgepackt, ist der Spaß vorbei. Der Bus hält erneut und alle müssen raus. Hilflos schaue ich mich um und dann passiert das, was uns in Albanien hundertmal geschah. Man kümmert sich um uns. Man nimmt uns an die Hand. Dieses „man“ ist in diesem Fall eine blutjunge Kosovoalbanerin. Hübsche, braune Locken umspielen ihre feinen Gesichtszüge. Kluge, wache Augen funkeln hinter einer großen Brille. Sie macht eine klare Ansage in feinstem Englisch. „Der Bus endet hier. In einer halben Stunde kommt ein größerer Bus. Ich gehe jetzt einen Kaffee trinken, bin rechtzeitig zurück und zeige Euch, wie es weitergeht“. Und wie gesagt so getan. Wir steigen also um. Die Fahrt ist wunderschön. Eine gut ausgebaute Straße führt durch atemberaubende Bergwelt. Krasse Felslandschaft, lange Tunnel unter schneebedeckten Bergen, adrette albanische Bergdörfchen, wie ich sie nun so oft staunend durchwandert habe, Brücken über wilden Gebirgsflüssen, Hirten ziehen mit ihren Ziegen über eisige Bergkuppen. Und unsere Reiseleiterin hält was sie versprach. Wann immer ein Fragezeichen in meinen Augen auftaucht, sieht sie es. Und das obwohl sie mit Ihrem Freund in der Reihe hinter uns sitzt. Wenn der Busbegleiter die Fahrscheine sehen will oder die Personalausweise einsammelt, wie lange die zweite Pause dauert und und und. Immer ist sie da. Am Ende sorgt sie dafür, dass wir an der richtigen Stelle aussteigen. „Jetzt seid Ihr in Prizren, hier müsst Ihr raus. Prizren ist meine Heimatstadt, möchtet Ihr noch etwas wissen“. „Nein, liebe Reisefee, möchten wir nicht, ab hier finden wir uns schon weiter. Vielen, vielen Dank für alles“ denke ich und formuliere das albanische Wort aller Worte „Faleminderit“. Ich winke ihr lange.
Lieber Freund, nun habe ich endlich Post von Dir bekommen. Wie sehr habe ich mich darüber gefreut. Du hast mich gefragt, wie es wohl ist Albanien, dieses schöne Land mit seinen Menschen, ganz neu zu entdecken, weil Du die Vermutung hast, dass die Jahreszeiten einen großen Teil des Erlebens ausmachen. Weißt Du, es hat sich herausgestellt, dass es Liebe ist, die mich mit diesem Land verbindet. Damit meine ich nicht die kitschige, süße Liebe, wie sie uns in Hollywoodfilmen vorgegaukelt wird. Es ist eine andere, viel tiefer reichende Kraft. Es spielt in diesem Fall keine Rolle, ob es Sommer ist oder Winter. Ob die Sonne scheint oder ob es regnet. Ob ich Brause trinke oder warmen Tee. Ob sich mir das schönste Gesicht zeigt oder die dunkelste Seite. Ob ich euphorisch, neugierig ankomme oder müde und zerschlagen. Es ist ein Gefühl, welches nicht wertet oder Kategorien bemüht. Ich fühle mich geborgen, in Sicherheit, vollständig angenommen und habe das Gefühl im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein. Alles was mir begegnet, finde ich schön und wertvoll. Und ich bin vollkommen glücklich. Und auf diese wundervolle Art erlebte ich den gestrigen Tag. Ein paar Stunden streiften wir durch die Stadt. Erklommen den höchsten Berg der Gegend. Darauf die alte Burgruine Rozefa. Wir tauchten ein in die Geschichte der Illyrer. Standen lange vor grandioser Aussicht. Die große fruchtbare Ebene mit dem wild mäandernden Fluss zu unseren Füßen, die schneebedeckten Berge am Horizont, die glitzernde Oberfläche des stillen Shkodarsees, die bunte, lebendige Stadt am Fuße des Hügels... wunder, wunderschön. Wir haben ein gegrilltes Hähnchen am Straßenrand gegessen, (ganz sicher ein glückliches, albanisches Huhn), haben einen köstlichen Kaffee getrunken in einem der hunderten Cafés der Stadt und dabei das muntere Treiben beobachtet. Ich habe einem alten Bäuerlein eine Handvoll Gemüse abgekauft, welches er auf seinem klapprigen Fahrrad in die Stadt geschleppt hat. Auf dem Bürgersteig hat er seine Schätze ausgebreitet. Auf kleinen Pappschildern stehen, mit ungelenk, zittriger Hand geschrieben, die Preise. Nichts kostet mehr als 100 Lek (1Euro). Hundertmal habe ich „Faleminderit“ gewünscht und jedes Mal ein strahlendes Lächeln geerntet. In unserer heimeligen Herberge haben wir gesessen an einem kleinen Ofen, der bullige Wärme zauberte und haben seit langem mal wieder eine Partie Schach gespielt. Wann haben wir das letzte mal Zeit und Muße dazu gehabt? Wie Du siehst, lieber Freund, ein völlig ruhiger, erfüllter Tag. Unaufgeregte Tiefgründigkeit – Liebe eben.
Eins muss ich Dir noch gestehen. Wir waren gestern auf dem Weihnachtsmarkt in Shkodar. Das war die absolute Härte. An Geschmacklosigkeit nicht zu überbieten. Eine überbordende Illuminationsorgie nach amerikanischem Vorbild, Fressbude an Fressbude, auf einer großen Bühne dudelte ohrenbetäubender Albanopop und Massen von Menschen. Ich mittendrin. Unvorstellbar oder? Wo ist der normalerweise an dieser Stelle einsetzende Fluchtreflex geblieben? Wahrscheinlich ist auch hier die Liebe im Spiel. Ich habe mich mit den Leuten gefreut. Sie haben gesessen, geredet, getrunken, gelacht und getanzt. Es ging ihnen gut in diesem Moment und das hat mich friedlich und froh gestimmt.
Lieber Freund, ich muss Schluss machen. Der Hahn drängelt. Er sagt, ich solle nicht so viel schreiben, ich würde Dich ja langweilen. Stimmt das? Ich glaube ja, er ist mal wieder eifersüchtig oder noch schlimmer, er hat einfach nur Knast und will Abendbrot essen. Es ist ja schon spät.
Schlaf gut und träum etwas Schönes. Vielleicht ja von der Liebe.
Deine M.
Bild: Tito bei der Eröffnungder Bahnstrecke Belgrad Bar 1976
„Eine Fahrt mit der Eisenbahn kann ich beim besten Willen nicht als Reise bezeichnen. Man wird ja lediglich von einem Ort zum anderen befördert und unterscheidet sich damit nur sehr wenig von einem Paket.“
John Ruskin (1819-1900)
7. Brief
01.12.2024
Lieber Freund, der Du nun auch der meinige bist!
Wäre ich – Robert – ein kleiner König oder zumindest ein mieser Diktator, würde ich mir sofort bei Machtergreifung einen Regierungszug zulegen, natürlich auf Staatskosten. Mit zwei Lokomotiven, falls eine den Geist aufgibt oder durch Sabotage zerstört wird. Denn alle Diktoren haben ganz viele Feinde, so auch ich. Einen Salonwagen hätte ich und Privatgemächer, Speisezimmer und bewaffnet wäre der Zug mit Maschinengewehren und allem, was die modernsten Waffenschmieden so feilbieten. Drohnen würden mich zu meinem Schutz umschwirren wie Motten das Licht und ein Hubschrauber zwecks Flucht wäre auch da. Eine Menge Personal bräuchte ich im Zug. Kammerdiener, Köche, zwei (zwecks Ersatz) der üblichen Vorkoster, Soldaten, Geheimdienstleute, die die Soldaten geheim überwachen und natürlich meine Gespielinnen für einsame Stunden. Dieser Hofstaat benötigte leider auch Schlafplätze im Zug – in Ordnung, lieber Freund, diese sollen sie haben, natürlich in einem Extrawaggon am Ende des Zuges.
Solch einen Zug hatte natürlich auch Marschall Josef Broz Tito, unser jugoslawisches Idol. Er ließ sich so einen Zug bauen, der aufgrund seiner Farbe der „Blaue Zug“ genannt wurde. Im Stall standen 3 amerikanische Dieselloks, 3 Schnelldampfloks sowie 2 elektrische Triebwagen. Tito reiste viel, er gab Staatsbesuche und Staatsempfänge im „Blauen Zug“, mindestens zwei Badeorte und seine Privatinsel bei Istrien steuerte er an. Und die Eröffnung der von uns befahrenen Linie von Belgrad nach Bar im Jahr 1976 lies er sich nicht nehmen.
Natürlich hat es Martina erkannt, mein lieber Freund. Beim Aussteigen in Podgorica warfen wir noch einen Blick zurück auf den alten, ramponierten und über und über mit Graffitis beschmierten Zug und siehe da, lieber Freund – ein Waggon stach optisch heraus aus diesem fahrenden Schrotthaufen – und hatte die Farbe Blau. Elegant, schnittig, edel. Die Recherchen ergaben, dass tatsächlich ein Waggon des legendären „Blauen Zuges“ in den Nachtzug nach Bar eingegliedert wurde. Und das ist eben der Schlafwagen für Titos Hofschranzen und genau der, in welchem wir letzte Nacht untergebracht waren. (Ist das nicht der absolute Hammer? Die Korrekturleserin ist außer sich. Und genau wir haben diesen Wagen bekommen. Krass.)
Der übrige Teil des „blauen Zuges“ wird heute teuer an Touristen vermietet, die in Titos Salonwagen eine heiße Runde drehen und etwas an der alten Macht schnuppern wollen. Unser alter Schlafwagen wird dafür nicht benötigt.
Hätte ich während der Fahrt gewusst, dass damals möglicherweise Titos Leibwächter in mein Bett gepupst hat, vielleicht hätte ich mich da schon wie ein kleiner König gefühlt.
Eine Frage noch, lieber Freund, warum waren alle Waggons übel beschmiert, nur dieser eine blaue nicht? Vielleicht Pietät vor Tito? Oder wird dieser Waggon permanent geschrubbt oder nachgepinselt? Wir werden es nicht erfahren.
Für heute war´s das, lieber Freund, bis demnächst Robert
Kleine Stationen sind stolz darauf, dass die Schnellzüge an ihnen vorbeifahren müssen. (Karl Kraus 1874-1936)
6. Brief
30.11.2014
Mein lieber Freund,
was für eine Nacht. Hundemüde, sauglücklich und leicht verkatert entlässt mich unser Zug heute morgen kurz nach sieben wieder in die Wirklichkeit. Ganz benommen fühle ich mich, wie eben einem Märchen entsprungen. Eine Zeitreise habe ich gemacht in Titos Jugoslawien um 1976. Als gestern unser Zug im Hochglanzbahnhof von Belgrad einfuhr, gemächlich, imposant und mit großem Getöse traute ich meinen Augen kaum. Ein Urvieh, wie dem Eisenbahnmuseum entsprungen, stand vor mir. Ich tauchte in die Vergangenheit ein. Kannst Du Dich noch erinnern, wie man Eisenbahn vor 50 Jahren fuhr? Weißt Du noch, dass man die Fenster herunterlassen oder ankippen konnte, wenn es einem zu warm wurde? Kannst Du Dich an das lustvolle Gefühl erinnern, die Nase in den Fahrtwind zu recken und die Freude, wenn man in einer Kurve die Lok sehen konnte? Kannst Du Dich erinnern, dass jeder Übergang in einen anderen Waggon einem kleinen Abenteuer glich? Mit Wucht musste man die Tür öffnen und hinter sich schließen und stand dann für Sekunden im zugigen, Padamm Padamm auf wackelnden Eisenplatten, voll Sorge, ob die Kraft reicht, die zweite Tür zu öffnen. Schloss sich diese hinter einem, war da wieder die Wärme und die plüschige Gedämpftheit der Geräusche. Kannst Du Dich erinnern, dass man auf Bahnhöfen nicht auf die Toilette durfte und sicher weißt Du auch warum. Und dann trat man auf einen kleinen Hebel rechts neben der Schüssel und eine Klappe öffnete sich. Das nicht näher zu Benennende sauste davon und man konnte die Schienen sehen. Es gab Raucherabteile, da musste man die Luft anhalten auf dem Weg zur Mitropa und auch in den Gängen der Abteilwagen wurde am offenen Fenster geraucht. Es ist lange her, lieber Freund, ich weiß. Heute sitzen wir in klimatisierten Großraumabteilen in steriler Umgebung. Mit WLAN und allem Pipapo. Der Übergang in einen anderen Wagen wird nur spürbar durch das leichte ppppppssssst, wenn wir auf die grüne runde Taste drücken, die so putzig blinkt und das WC ist eine Vollplastikkabine, die mit Unterdruck alles Unangenehme in die Untiefen des Wagens saugt. Rauchen darf man nur noch auf den Bahnhöfen und auch nicht überall. Du weißt, ich bin kein Raucher, habe schon vor Jahren damit aufgehört. Aber irgendwie tun sie mir auch leid, die armen Süchtigen. Das ist ja Diskriminierung.
Halte mich nicht für einen ewig Gestrigen, aber ich frage mich, wo ist da denn heutzutage noch das Abenteuer? Und in diesem Abenteuer sitzen wir nun geschlagene elf Stunden auf dem Weg durch die Nacht, in unserem kleinen Schlafwagen für nur zwei Personen. Alles, alles ist echt und original. Die dunkelbraune Holzvertäfelung, weinrote Samtvorhänge, ein nierentischartiges Waschbecken, die geschwungenen Kleiderhaken, die Gepäckablage aus Aluminium, der kleine Heizkörper unter dem Fenster, der meine Füße wärmt. Und es ist so derart gemütlich, dass ich mich hin und wieder schütteln muss vor Wonne. Bis spät in die Nacht sitzen wir, trinken Wein und reden. Der Zug rumpelt derartig, dass wir unsere Becher nur bis zur Hälfte füllen können. Der Wein springt förmlich aus dem Glas. Wie klingt es, wenn der Zug um die Kurve fährt und wie, wenn er bremst? Wie reiste man vor 100 Jahren und warum reisen wir überhaupt? Wann ging es los mit dem Tourismus und wo hört der Spaß auf? Wir finden kein Ende. Wann haben wir das letzte Mal so schöne Zeit miteinander gefunden? Kein Fernseher, kein Internet, kein nerviger Ärger. Unsere kleine Kabine ist ein inspirierender Ort. Spät sind wir in die Kojen gekrochen. Der Lokführer fuhr langsam, vorsichtig und mit Bedacht und wir schliefen ruhig und fest. Als es hell wurde gab es zum Frühstück noch die Ausblicke auf die gigantischen Berge vor Podgorica.
Wir sind dann gleich weiter gefahren, in einem kleinen klapprigen Bus. Weiter nach Albanien. In mein Albanien. Nach Shkodar. Hier machten wir Station auf unserer großen Wanderung. Ich habe mich häufig gefragt, ob meine Liebe zu Land und Leuten ein Trugbild ist. Euphorisch und wie frisch verliebt, verließ ich im vorigen Sommer diesen Ort und brauchte einige Zeit, um mich wieder einzufinden in der Realität der Europäischen Union mit seinen trägen, satten und oft unverständlichen Gepflogenheiten. Hattest Du, lieber Freund schon einmal eine Urlaubsliebe? Etwas, was unter einem großen Himmelszelt und im Ausnahmezustand „Urlaub“ zu schillernden, selbstvergessenen Stunden führt? Aber ist es alltagstauglich? Ich habe mich gefragt ob meine Liebe zu Albanien genauso wenig oder viel ist, wie ein unverfänglicher Urlaubsflirt. Ich hatte ein wenig Angst vor der Antwort, aber ich kann Dir berichten, dass es nicht an dem ist. Es umfing mich sofort nach der Grenze. Das warme und vertraute „Faleminderit – Gefühl“. Faleminderit heißt Danke, wie Du weißt. Eigentlich wollten wir morgen gleich weiter in den Kosovo. Aber das kommt für mich nicht in Frage. Einen Tag länger habe ich ausgehandelt mit meinem Hahn. Das war nicht leicht, manchmal ist er echt komisch (Der Korrekturleser stellt die schlichte Frage, wer von den Hühnern eigentlich komisch ist?) Ich weiß auch nicht, warum er es so eilig hat. Ich muss jetzt Schluss machen. Wir wollen zum Essen gehen. Morgen schreibe ich Dir wieder, lieber treuer Freund. Zuhören ist eine Kunst und darin bist Du ein Meister.
Deine ferne, nahe M.
Wenn irgendwo zwischen zwei Mächten ein noch so harmlos aussehender Pakt geschlossen wird, muss man sich sofort fragen, wer hier umgebracht werden soll.
Otto von Bismarck (1815 - 1898)
5. Brief
29.11.2024
Mein lieber Freund,
heute schreibt Dir eine ganz erschöpfte M. Acht Stunden Belgrad liegen hinter mir. Metropole, Weltstadt, Großstadt, Moloch. Beton, Autos, Lärm, Beton, Autos, Lärm, Hochglanz, Armut, Tristesse, Oberflächlichkeit … Dinge, die mich auslaugen. Ich brauche Wiese unter meinen Füßen und den Himmel über mir. Ich bin nicht gemacht für derartige menschliche Entgleisungen. Aber beginne ich von vorne. Der Tag begann schon mit einem Schock. Gegen 10:00 Uhr morgens stehen wir tief betroffen vor dem Bahnhof in Novi Sad. Ein interessantes Gebäude mit einer großen, gläsernen Front und einem wellenförmigen Dach. Mitte der 70er, noch unter Tito gebaut, in den letzten Jahren von Grund auf saniert. Die Fassade hat tiefe Wunden. Armierungseisen ragen hervor, grobe Betonbruchkanten stellen uns vor Rätsel. Überall liegen Blumen auf dem Bürgersteig und kleine Kerzen brennen. Das Gebäude ist abgesperrt. Niemand darf hinein und ein Zug fährt auch nicht. Wir erfahren, dass hier vor wenigen Tagen das schwere Vordach aus Beton eingebrochen ist. Viele Menschen hielten sich zu diesem Zeitpunkt darunter auf. Saßen auf den Bänken oder standen herum. 15 kamen ums Leben. Darunter ein fünfjähriges Mädchen. Und ich stehe und schaue und sehe alles vor mir. Die leblosen Körper unter den Trümmern. Die Verletzten, die hilflose Suche, die Verzweiflung. Seit diesem Vorfall gehen die Menschen im ganzen Land auf die Straße. Sie prangern die korrupte Politik an. Die serbische Regierung hat sich mit den Chinesen verbündet und die bauen gerade (mit eigenen asiatischen Arbeitern) das Schienennetz aus. Richten Hochgeschwindigkeitsstrecken ein, sanieren Bahnhöfe, machen Belgrad wieder zu einem Verkehrsknotenpunkt. Der alte Anspruch, das Tor zum Balkan zu sein und dessen wirtschaftliches Zentrum erwacht neu. Serbien die Großmacht. Hier geht es um Macht und Einfluss, welche man nur mit den richtigen Verbündeten erreichen kann. Und wo gehobelt wird, da fallen Späne. Ein eingebrochenes Vordach mit ein paar Toten, das fällt unter die Kategorie Kollateralschaden. Mein lieber Freund, grob ausgedrückt, könnte ich kotzen, wenn ich darüber nachdenke. Nichts wie weg hier. Wir nehmen den Bus. Etwa eine Stunde später sitzen wir, erneut irritiert, im neuen Bahnhof von Belgrad. Ganz sicher auch von Chinesen erbaut. 10 Bahnsteige, eine riesige, gläserne Empfangshalle. Hier geht es zu wie auf einem großen internationalen Flughafen so mit Departure und Arrival und alles ist so geleckt, dass man vom Fußboden essen könnte. Allein es gibt keine Fahrgäste. Die Bahnsteige sind wie leergefegt, in der Halle sitzen nur wenige, sehr wenige Reisende. Die vielen Cafés sind leer. Die Serben fahren nicht mit dem Zug. Die Autobahn und das haben wir heute gesehen, ist perfekt ausgebaut mit einer hohen Dichte an Tank- und Raststellen. Man ist mit dem Bus oder dem Auto viel schneller. Ängstlich schaue ich nach oben. Hoffentlich fällt mir hier, in dieser Fata Morgana von Bahnhof, nicht das Dach auf den Kopf. Das ganze ist doch von Grund auf auf Sand gebaut.
Ich unterdrücke den Impuls zur Flucht (wo soll ich denn auch hin?) und wir lassen uns erst einmal in einem der Café´s auf einen Cappuccino nieder. Wir nennen das Orientierungsphase. Da es hier kostenloses WLAN gibt, ist alles ganz einfach. Wir erfahren, dass der Bahnhof etwa 3 km vom eigentlichen Zentrum entfernt ist. Das Belgrad (weiße Stadt) eine der ältesten Städte auf dem Balkan ist. Die alte Burg, welche hoch über dem Zusammenfluss von Save und Donau thront, hat ihre Ursprünge im 15. Jahrhundert. Die Stadt lag an einem Schnittpunkt der großen Handelsrouten und kam so schnell zu Reichtum. Im 2. Jugoslawien unter Tito, welcher ja bekanntlich den Stalinismus ablehnte, wurde Belgrad als Versammlungsort der Bewegung der Blockfreien Staaten ein internationales politisches Zentrum. Mit den Universitäten, Hochschulen und wissenschaftlichen Einrichtungen ist Belgrad das Bildungszentrum und mit zahlreichen Verlagen, Rundfunk- und Fernsehanstalten sowie Tages- und Monatszeitungen auch das dominierende Medienzentrum des Landes. Belgrad ist Sitz der Serbisch-Orthodoxen Kirche. Und während ich recherchiere und vorlese, wird es mir immer gemütlicher. Schon habe ich die Schuhe ausgezogen und lege die Beine hoch. Ich umschnurre meinen Hahn. „Können wir nicht einfach hierbleiben, bis heute Abend um halb neun unser Nachtzug geht? Wir wissen doch jetzt schon alles über Belgrad. Reicht das nicht? Draußen regnet es und es ist kalt“. Nein, natürlich reicht das nicht. Wenn wir schon mal hier sind …
Naja und dann sind wir losgestürzt. Die Orientierung in so einer großen Stadt ist nicht leicht, wenn man keine Karte hat und wenn man nicht auf mobile Daten zur Navigation zurückgreifen kann. Wie Du vielleicht weißt, lieber Freund, fallen außerhalb der EU hohe Roaminggebühren an. Es ist so stressig und nervig, dass wir beinah darüber in Streit geraten. Wir sind bis in die Innenstadt gekommen und auch wieder zurück. Gegeben hat es uns wenig. Obwohl. Der Zusammenfluss der beiden Flüsse, der hat mir gefallen. Und wir sind wieder ein Stück klüger. Wir wählen die Metropolen ab. Wir müssen da nicht hin um weltoffen und gewandt zu erscheinen. Und wir sind alt genug um das selbstbewusst zu leben.
So jetzt verabschiede ich mich von Dir. Unser Zug steht schon bereit. Gleich geht es los. Mit dem Nachtzug von Belgrad nach Podgorica. Titos Zug. Im Schlafwagen. Wir haben uns ein Zweierabteil gegönnt. Drück mir die Daumen mein Lieber, das alles gut läuft und das ich ein bisschen schlafen kann. Ich bin ganz schön aufgeregt.
Deine M.
Der Sinn in den Gebräuchen der Gastfreundschaft ist, das feindliche im Fremden zu lähmen. Friedrich Nietzsche (1844-1900)
4. Brief
28.11.2024
Mein lieber Freund,
nun hast Du meinen Hahn einmal von einer ganz anderen Seite kennengelernt. Völlig außer sich war er gestern. Richtig leid tat er mir. Eifersucht ist ein dunkles Gefühl, ein schweres Gift, welches mehr den schädigt, der es in sich trägt, als den, auf welchen es abzielt. Wir haben noch lange geredet. Er weiß nun auch, dass Du kein menschliches Wesen bist und auch kein Mann, diese Kategorien würden Deiner Besonderheit gar nicht gerecht. Du bist eine wunderbare Fiktion. Du, mein lieber Freund, bist die große Summe aller der Menschen, die mir am Herzen liegen (Sportsfreunde, Saufkumpane, väterliche Freunde, Geigenschüler, Busenfreundinnen, Nachbarn, Reisegefährten, Liebhaber und Liebhaberinnen, Schwägerinnen, Familienmitglieder, Idole, Vorbilder, Exmänner, Vertraute, Seelenverwandte und und und) ob ich sie kenne oder nicht, und die ich auf diese Weise mitnehmen kann auf unsere Reise. So, nun da sich die Wogen geglättet haben, können wir wieder zum Wesentlichen kommen.
Sicher brennst Du darauf zu erfahren, wo wir nun eigentlich sind und wie es uns ergangen ist in der letzten Zeit. Gestern, schon nach Einbruch der Dunkelheit, sind wir in Serbien angekommen. Im Schleichgang und mit einem rumpeligen, heruntergekommenen Zug auf marodem Gleisbett. Regentropfen peitschten an die Fensterscheibe. Noch im letzten Licht des Tages überquerten wir die Grenze zwischen Ungarn und Serbien. Einen solch hohen und unüberwindbaren Zaun habe ich lange nicht mehr gesehen. Unüberwindbar für all die Hoffnungsvollen auf der Suche nach einem besseren und friedlicheren Leben. Ob er ein Ergebnis der Politik von Viktor Orbán ist? Weißt Du etwas Genaueres darüber, lieber Freund? Mir jedenfalls lief beim Anblick dieser kilometerlangen Unmenschlichkeit ein kalter Schauer über den Rücken.
Zum Glück hatte er sich eine Stunde später, bei unserer Ankunft, wieder verzogen (man sollte nicht verzweifeln an den Ungerechtigkeiten dieser Welt) und mich umfing das warme, bereits wohlbekannte Gefühl, herzlich willkommen zu sein. Du darfst Dir nun nicht vorstellen dass eine Delegation mit Winkelementen und Transparenten am Bahnhof stand, begleitet von einer Blaskapelle um uns zu begrüßen. Weißt Du, willkommen fühle ich mich immer dann, wenn ich problemlos und pünktlich anreise. Wenn es nichts gibt, was sich mir in den Weg stellt. Kein Hindernis welches es zu überwinden gilt. Willkommen fühle ich mich, wenn ich begrüßt werde von einer warmherzigen Vermieterin, die mich einlässt in ein liebevoll gestaltetes Zimmer mit einem gemütlichen Bett. Und willkommen fühle ich mich auch, wenn ich dann wenig später in einem urigen, serbischen Restaurant sitze, umsorgt von einem jungen Kellner, der mir ein großes Glas roten Wein auf den Tisch stellt. Wein aus den Weinbergen, welche die Stadt umgeben und dazu ein echt serbisches Gericht (vegetarisch) mit viel Sauerkraut und Paprika.
Wir sind in Subotica angekommen. Hast Du von dieser Stadt je etwas gehört, bester Freund? Kennst Du überhaupt irgendeine serbische Stadt außer Belgrad? Nimm doch mal wieder den Atlas zur Hand. Soweit weg wirst Du ihn ja nicht wieder gelegt haben. Ausgespuckt hat uns der Zug hier nur aus einem Grunde. Wir folgen einem Plan, den Du vielleicht noch gar nicht kennst. Das Ziel ist Pyrgos mit Zwischenhalt im Kosovo. Soviel weißt Du schon. Die Art der Fortbewegung ist das Fahren mit der Eisenbahn. Wir benutzen andere Verkehrsmittel nur dann, wenn es gar nicht anders geht. Dafür nehmen wir große Umwege und sogar unverhältnismäßig lange Fahrtzeiten in Kauf. Es gibt keinen direkten Zug von Budapest nach Belgrad. Wir hätten mit dem Flixbus fahren können. Da wären wir in etwa 5 Stunden da gewesen, aber das wäre ja außerhalb unseres inneren Vorhabens gewesen. So sind wir von Budapest mit dem Zug in Richtung Süden gezuckelt so weit es möglich war an einem Tag. Bis nach Subotica, kurz hinter der ungarischen Grenze. Im Dreiländereck zwischen Rumänien, Ungarn und Serbien. In der Vojvodina. So heißt die historische Gegend. Eine multikulturelle Stadt in der Serben, Ungarn und viele Kroaten friedlich miteinander leben. Was für einen Glücksgriff wir da gemacht haben, stellte sich in Gänze erst im Licht des neuen Tages heraus. Subotica ist die ungewöhnlichste Stadt, welche ich je gesehen habe. Es ist keine große Stadt. Knapp 100.000 Menschen leben hier. Sie ist umgeben von einem Weinanbaugebiet. Wäre es Sommer, könnten wir beide mit dem Fahrrad von Weingut zu Weingut radeln, um den guten Rebensaft zu probieren. Ich sehe uns schon, mein treuer Freund, wie es immer lustiger zuginge auf dieser Tour. Am Ende würden wir kichernd unsere Räder schieben müssen, weil die Amplitude beim Fahren zu groß und zu gefährlich geworden wäre.
Das ist aber noch nicht das Besondere an dieser Stadt. Es ist die kurios große Ansammlung von öffentlichen und privaten Gebäuden, von Brunnen und Skulpturen im Stil des Art Deco. „Jugendstilwunder Subotica“ titelt ein überschwänglicher Reisebericht, welchen ich im Internet finde. Ich kann diesem nur zustimmen. Alleine das Rathaus, ein etwa 6000 m2 große Komplex, scheint einem ungarischen Märchen entsprungen zu sein, mit Keramik-Blumenfliesen, schmiedeisernen Verzierungen, phantasievollen Glasfenstern und einem 76 Meter hohen Uhrturm. Und so folgen wir staunend und verwundert der „Jugendstilroute“ durch die Innenstadt, vorbei an etwa 20 dieser architektonischen Köstlichkeiten, wo man im Überflüssigen (Verzierungen) das Notwendigste sah.
Eins noch möchte ich Dir berichten. Schenke mir noch für eine kleine Weile Dein Ohr, lieber Freund. Mein Kopf und mein Herz sind noch voll von den Eindrücken und unsere Zeit ist begrenzt. In wenigen Tagen ist alles wieder vorbei.
Winter in einer osteuropäischen Stadt ist etwas für Spezialisten. Du musst wissen, dass die Leute hier arm sind. Das zeigt sich auch am Zustand der Bausubstanz. Graue Fassaden bröckeln, Balkone werden notdürftig vorm Herabfallen bewahrt, im kommunistischen Kulturhaus, welches aus unserer Sicht baupolizeilich gesperrt werden müsste, finden Tanzveranstaltungen statt. Bäume wachsen aus Dächern von Häusern, welche zum Teil noch bewohnt werden. Die Straßen sind löchrig und kaputt. Weißt Du, dieser Anblick tut nicht so weh, wenn das Blätterdach der vielen alten Bäume auf den Plätzen und den Boulevards den Blick nach oben verstellt. Wenn in den Brunnen der Stadt Kinder plantschen, wenn Sonnenstrahlen unsere Seele streicheln und die Menschen in den Straßencafés sitzen und alles lebt und atmet. Jetzt ist Winter und man könnte den Zustand als trostlos bezeichnen. Aber für mich ist er das nicht. Ich bin ja Spezialistin. Ich laufe durch die Stadt, die Hände tief in den Taschen. Es ist kontinental kalt. Eine trockene, eisige Kälte. Eine Art Dunst liegt über der Stadt. Die Luft riecht nach Kohleheizung. Menschen hasten vorbei in dicken Mänteln und mit Pelzmützen. Das Grau der Fassaden, das Grau des Himmels, Bäume recken ihre schwarzen Arme empor. Es ist die Abwesenheit von Farbe, welche ich so besonders finde. Einzig die roten Rücklichter der Autos, in der früh einbrechenden Dunkelheit, setzen Akzente. Wenn ein alter Ikarus voll Karacho durch eine tiefe Pfütze am Straßenrand fährt, springe ich lachend beiseite. Und wenn ich dann richtig durchgefroren bin, dann schlüpfe ich geschwind in eins der vielen Kaffeehäuser der Stadt. Ein überhitzter Raum umfängt mich. Es riecht nach Kaffee, süßer Torte und Zigaretten. Ich suche mir einen schönen Platz aus, irgendwo am Ofen. Meine Wangen glühen, genüsslich nippe ich an meiner russischen Schokolade und beobachte das Geschehen. Eine Gruppe serbischer Hünen diskutiert lautstark. Ein paar Schülerinnen stecken die Köpfe zusammen und kichern leise. Ein junger Philosoph liest, unbeeindruckt des Geräuschpegels, in einem Buch. Alte Damen in eleganten Kleidern und mit Hüten auf dem Kopf plaudern angeregt. Unverständliche Worte, schönstes Slawisch streichelt mein Ohr. Lieber Freund, das ist nicht trostlos. Hier in diesem Raum ist das konzentrierte Leben, die Wärme, die Farben. Es ist nicht verschwunden, nur weil Winter ist. Es hat sich zurückgezogen in die Innenräume und bildet diesen wunderbaren Kontrast zur Farblosigkeit und Kälte in den Straßen. Ich liebe es und es macht mich glücklich, es miterleben zu dürfen.
So mein Bester. Morgen geht die Reise weiter. Ein Nachtzug steht auf dem Programm. Ich werde Dir berichten.
Ich umarme Dich fest. Deine M.
Zukünftig wird es nicht mehr darauf ankommen, daß wir überall hinfahren können, sondern, ob es sich lohnt, dort anzukommen – Hermann Löns
(1866-1914)
3. Brief
27.11.2024
Werter Herr sogenannter „Lieber Freund“
Wie ich erfahren habe, kommunizieren Sie mit meiner Ehefrau. Wer sind Sie eigentlich? Wahrscheinlich ein Exliebhaber! Da fällt mir doch glatt ein Ei aus der Hose. Ich sage Ihnen gleich, wenn das auch noch hinter meinem Rücken über andere Kommunikationskanäle weitergeführt wird, ist ganz schnell Ende mit „Ach mein lieber Freund“ usw. Da zeige ich Ihnen ganz schnell, wo der Frosch die Locken hat.
Gut, ich glaube, Sie haben mich richtig verstanden. Martina (Deine M., wenn ich das schon höre) hat mich gebeten, Ihnen etwas über Eisenbahnen zu schreiben. Interessieren Sie sich überhaupt dafür? Interessieren Sie sich überhaupt für irgend etwas? Also gut, ich kriege mich schon wieder ein. Wenn Sie sich einbilden, ich wäre eifersüchtig, dann täuschen Sie sich gewaltig.
Wie sie sicher von „M“ gehört haben, wollen wir die Strecke in unser geliebtes Pyrgos auf der Mani mit der Bahn bewältigen und möglicherweise wissen Sie auch, dass dies vor ca. 50 Jahren kein Problem darstellte. Die Gastarbeiter fuhren ohne umzusteigen von Köln nach Athen oder Istanbul zum Urlaub, Besuch oder zu Beerdigungen nach Hause. Als die Straßen besser wurden, fuhr man bequemer, schneller aber weitaus gefährlicher mit dem Auto. Später stieg man in den Billigflieger. In die Bahn investierte kein Staat so richtig und das Streckennetz vergammelte allmählich. Die Balkankriege (Schon mal etwas davon gehört, junger Mann?) hatten ebenso ihren Anteil am Verfall der Strecke. Nun haben wir die Reise in Schwerin begonnen und sind planmäßig – mit Schienenersatzverkehr – in Berlin angekommen. Nach einer Übernachtung bei Freunden, die Sie natürlich nicht kennen, ging es gegen 10:00 Uhr am Südkreuz los. Der ungarische, betagte aber grundsolide Zug nach Budapest rollte pünktlich ein und siehe da, ein Waggon fehlte. Dieser Lapsus wurde vom freundlichen Personal ausgeglichen, indem die mit Platzkarten ausgerüsteten Reisenden auf die noch freien Plätze umgelenkt wurden. Die Stimmung war heiter und nach kurzer Zeit hatte sich alles zurecht gerüttelt. Die Leute waren zufrieden. Keiner musste stehen. Anders auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig. Da stand ein ICE der neuesten Generation, wahrscheinlich mit Neigetechnik und allem Schnickschnack dazu, schnaufend mit nun schon 3 Stunden Verspätung und hoffnungslos überfüllt auf dem Weg von Hamburg nach München. Wie ein waidwund geschlagener Lindwurm lag er da, umschwirrt von Bahnmenschen, die etwas von technischen Problemen faselten. Klar, wie Sie wissen, kann da nicht der Lokführer mal geschwind mit dem 45er Maulschlüssel beigehen und die Kiste wieder zum Laufen bringen. Da ist Hightech angesagt und wenn irgendwo lustig ein rotes Lämpchen planlos blinkert, rückt die Riesenkiste nicht aus. Bei bis zu 300 Sachen wäre das zu gefährlich.
(die Korrekturleserin merkt an: ist es letzten Endes nicht die unheilige Allianz zwischen der Übertechnisierung und dem ewigen Zeitdruck unter der das Verkehrssystem kollabiert? Eine nicht mehr beherrschbare Technik und das immer schneller von A nach B kommen müssen … dabei kommen wir unter die Räder. Und das betrifft nicht nur das Zugfahren, sondern in letzter Instanz viele Bereiche unseres Lebens. Der Technisierung können wir nur schwer entgehen. Die Schraube an der wir drehen können, ist die Zeit. Lass uns mal eine einfache Rechnung machen. Ein ICE braucht von Berlin nach München etwas über sechs Stunden und zwar für 600 km. Das kann klappen, muss aber nicht, da es sich um so etwas wie einen Idealfall handelt. Ein großes Versprechen der Deutschen Bahn, welches nur schwer zu halten ist, da das System zu störanfällig ist. Sagen wir also, wir berechnen nicht 100 km pro Stunde, sondern realistischerweise nur 80 km pro Stunde. Dann errechnet sich eine Fahrzeit von etwa siebeneinhalb Stunden. Dann lege ich noch eine halbe Stunde Sicherheitsreserve obendrauf und ausreichend Umstiegszeit. 9 Stunden für 600 km. Wenn ich dann nach 9 Stunden gut in München ankomme, bin ich sehr zufrieden. Und wenn es zehn sind, dann ist es immer noch gut. Und so reisen wir nun seit Jahren auf diese Art und völlig ohne Verspätung mit dem Zug durch Europa)
Unser Zug erreichte jedenfalls Budapest mit 5 Minuten Verspätung. Die „Mitropa“ war einsame Spitze und so macht Zugfahren richtig Spaß. Und Sie? Sind Sie ein viel reisender Billigflieger, Kreuzfahrer oder was sind Sie für ein Kollege?
Für heute lass ich es gut sein und hoffe, Sie nicht ganz gelangweilt zu haben,
Hochachtungsvoll Robert Loest
Die große Stadt hat nicht Zeit zum Denken, und was noch schlimmer ist, sie hat auch nicht Zeit zum Glück.
Theodor Fontane (1819-1898)
2. Brief
26.11.2024
Mein lieber Freund,
nun muss ich mal richtig Dampf ablassen bei Dir. Zu groß ist meine Entrüstung. Stell Dir nur vor, was mein Hahn für ein durch und durch bequemer Mensch ist. Und was für ein Geizkragen. Über sieben Brücken wollte ich heute mit ihm gehen. Das finde ich durchaus bescheiden in Anbetracht der Tatsache, dass in Gänze neun Brücken die Donau überspannen, um die Stadteile Buda im Westen und Pest im Osten miteinander zu verbinden. Immer hin und her wollte ich wandern von der flachen Westseite zur hügeligen Ostseite. Vom Parlament zur Fischerbastei, von der Markthalle zur Burg, vom Péterffy-Palais zum Várkert Casino. Eine einzige, riesengroße Schlängelei über berühmte alte Brücken, welche alle wichtigen Sehenswürdigkeiten miteinander verbindet (Der Korrekturleser rechnet fix die Kilometer und kommt auf 25 und erklärt dem widerspenstigen Huhn, dass auch in Budapest der Tag nur 24 Stunden hat und es bereits 16:15 Uhr stockdunkel ist). Zur Entspannung dann eine Runde Wellness im Gellértbad, einem mondänen Jugendstilluxustempel mit Schwimmbad, Sauna und Massagen. Zugegeben: Es ist nicht günstig. Die Eintrittskarte kostet 38 Euro und dann noch 15 Euro für den gemieteten Bademantel. Aber mal ganz ehrlich. Man gönnt sich ja sonst nichts. Und zum krönenden Abschluss wollte ich mit ihm zum Essen gehen in eins der Toprestaurants der Stadt. So mit gehobener modernisierter Küche der k.u.k Monarchie im stilvollem Ambiente. Ein elegantes Kleid habe ich mitgeschleppt. Ich wollte die schönste von allen sein. Seine Königin! Ist das nicht ein perfekter Plan, lieber Freund? Denkste. Runter gehandelt hat er mich auf zwei Brücken. Statt Wellness im Gellértbad hat er mich abgespeist mit einer Fahrt auf dem Riesenrad. Und gegessen haben wir in einem rustikalen ungarischen Imbiss. Was sagt man denn dazu? Ich bin derart stinksauer. Aus Rache werde ich die allerstärkste Waffe aus meinem Arsenal holen: Wenn er mich heute Nacht fragt, dann sage ich NEIN!!!
Ach mein lieber Freund, Du hast sicher schon längst gemerkt, dass ich hier gerade meinen Hang zur Übertreibung auslebe. Keiner kennt mich besser als Du. Natürlich sind zwei Brücken mehr als genug, Riesenradfahren macht mich glücklich. Und mit einer Handvoll warmer Esskastanien von der Straßenecke und einem Lángos (das ist eine Art ungarische Pizza) bin ich vollkommen zufrieden.
Heute sind wir stundenlang durch die Stadt gelaufen. Wir sind die Sehenswürdigkeiten abgelatscht, aber eigentlich haben wir versucht, das Wesen der Stadt zu ergründen.
Glaubst Du, dass es so etwas gibt? Hat eine Stadt eine Seele, die sie unverwechselbar und einzigartig macht? Wenn ja, worin besteht sie? Wie zeigt sie sich? Und wie finde ich sie? Reicht ein Städtetrip, die sind ja gerade en vogue, mit denen man sich gerne die Zeit vertreibt. Ein Wochenende London, Barcelona, Stockholm etc.? Wie näherst Du Dich einer Stadt? Welche Städte hast Du besucht? Berichte mir doch davon. Ich möchte auch diese Seite von Dir kennenlernen.
Weißt Du, ich musste an die Worte unserer Berliner Freunde denken (ich hatte Dir in meinem letzten Brief davon erzählt) „Budapest war auch beim zweiten Mal schön, aber irgendwie öde“ sagten sie. Gleichen sich nicht viele Metropolen Europas auf erschreckende Art und Weise? Die Pracht- und Protzbauten im Zentrum. Regierungsgebäude, Kirchen, Schlösser oder Burgen, opulente Gründerzeitviertel mit überbordenden Fassaden, mittelalterliche Gässchen, ein völlig zubetonierter Fluss. Nationalmuseum und Nationalgalerie. Der ständige Lärm und Gestank eines Verkehrssystems, welches kurz vor dem Kollaps steht und jede halbe Stunde das weit hallende Gejaule des Krankenwagens oder der Polizei. Straßenbahnen quitschen um Kurven. Tief in den Eingeweiden der Stadt poltert die U-Bahn. Leuchtreklamen, haushohe Werbeplakate, schillerndes Nachtleben, hastende Menschen, einsame Menschen. In den Innenstädten die teuren Boutiquen. Die, wo nur ein einziges Kleid im Schaufenster hängt. Ohne Preis versteht sich. Drumherum die immer gleichen Ketten. Roßmann, Spar, Douglas, H&M Aldi und Lidl. Weiter draußen, an der Endhaltestelle der Straßenbahn, da wo kein Tourist mehr hinkommt, die Armenviertel.
Fast schon verloren bewege ich mich zwischen den großen Sehenswürdigkeiten der Stadt, planlos suchend. So, mein lieber Freund, kann ich doch nicht gehen. Das darf doch nicht das Fazit sein.
Fast schon verzweifelt stelle ich mir die Frage: Was macht Budapest für mich einzigartig, unverwechselbar und unvergessen?
Ich kann Dir berichten, ich habe Antwort gefunden. Es sind die kleinen, flüchtigen und scheinbar unbedeutenden Dinge am Wegesrand. Dinge, die nie in einer Geschichtsschreibung auftauchen und auch in keinem Reiseführer. Das Eintauchen in einen stillen, romantischen Innenhof mit lauter kleinen Lädchen, die allerhand Selbstgemachtes verkaufen. Und dann der Straßenmusikant am Bahnhof Keleti. Ein dünnes, altes, zerlumptes Männlein. Gekrümmt wie ein kleines Komma saß er auf einem Plastikhöckerchen. Sein Gesicht war fast vollständig verdeckt von einer Pelzmütze. Er spielte seine Violine auf eine Art, wie ich es noch nie gesehen hatte und sein Lied bestand nur aus zwei Tönen. Statt den Bogen über die Saiten hin und her zu streichen, hielt er diesen starr in der Hand und bewegte die Geige hin und her. So entstand der erste Ton. In für mich nicht kalkulierbarem Abstand legte er dann seine linke Hand, die in dicken, löchrigen Handschuhen steckte auf die Saiten und so entstand der zweite Ton. Es war ein ulkiges Liedchen, was dabei heraus kam. Als ich ihm ein paar Forint in den Geigenkassen legte, hob er für den Bruchteil einer Sekunde seinen Kopf und ich sah ihm in die Augen. Freundlich und liebevoll schaute er mich an und in den Augenwinkeln funkelte der Schalk. Lieber Freund, dass sind Begegnungen, so unscheinbar sie auch erscheinen mögen, die mir unter die Haut gehen und die ich so schnell nicht vergesse. Und dann ist da noch die unglaubliche Geschichte von Gaudiopolis. Hast Du davon schon mal gehört? Übersetzt aus dem griechischen bedeutet das „Stadt der Freude“ und war eine selbstverwaltete Kinderrepublik in Budapest.
Gegründet wurde Gaudiopolis vom Gábor Sztehlo, einem Pastor, welcher bereits im 3. Reich über 2000 Juden gerettet hatte, mehrheitlich Kinder. Das Projekt begann nach dem 2. Weltkrieg mit nur wenigen Kindern, weitete sich aber schnell aus.
Sztehlo wollte, dass die Kinder ihr Leben selbständig meistern und selbstkritisch soziale Grenzen überwinden konnten. Er regte die Schaffung einer Republik an, deren Organisation er den Kindern überließ. Es wurde eine Verfassung erstellt, ein Ministerpräsident gewählt, der Gapo-Dollar als Währung eingeführt, eine Zeitung gegründet, Richter und Polizisten eingesetzt; Sztehlo selbst wurde zum Ehrenpräsidenten ernannt. Die Regierung saß im Haupthaus, der „Villa der Wölfe“. Die anderen Gebäude hießen „Schwalbenvilla“, „Regenbogenhaus“, „Villa der Eichhörnchen“ und „Mädchenburg“. Die Hauptprobleme, mit denen Gaudiopolis konfrontiert war, waren der Mangel an Geldern und Nahrungsmitteln für die Kinder, was sie dazu führte, einstimmig eine Änderung der Verfassung hinzuzufügen, die Diebstahl in Not erlaubte.
Lange währte der Zauber nicht. 1951, nach etwa sechs Jahren, wurde Gaudiopolis verstaatlicht und wieder war ein Traum ausgeträumt.
Lieber Freund. Nun aber genug geplaudert. Ich gehe heute früh schlafen. Morgen geht die Reise weiter nach Subotica. Das ist in Serbien.
Ich denke fest an Dich. Schlaf gut mein Lieber und vergiss nicht, mir zu schreiben. Ich kann es kaum erwarten von Dir zu hören.
Deine M.
„Das Reisen macht dich sprachlos und verwandelt dich dann in einen Geschichtenerzähler.“ – Ibn Battuta (1304-1369)
1. Brief
25.11.2024
Lieber Freund,
wir sitzen im Zug nach Budapest. Landschaften ziehen vorbei und die Gedanken gehen auf Wanderschaft. Wie viel wunderbares, spannendes, erfülltes Leben liegt hinter uns, seit dem wir im frühen Frühling heimgekehrt sind nach langer Zeit. Manch Traum ist wahr geworden, manch anderer zerplatzt, Beziehungen haben sich intensiviert und wir formulierten neue Lebensziele. Du warst ein Teil dieses Lebensabschnittes. Ein stiller Begleiter unserer Wege, voll aufrichtiger Anteilnahme.
Nun sind wir wieder unterwegs. Unterwegs sein ist ein anderer Aggregatzustand des menschlichen Seins und scheint die andere Seite der Medaille unserer Wirklichkeit zu sein. Um die Fülle unserer Aufgaben zu bewältigen, führen wir ein gut und ruhig organisiertes Leben nach Plan. Dabei steht das Wohl und das Fortkommen der anderen im Vordergrund, weil es uns reich macht. Nun, wenn wir aufbrechen und die Haustüre hinter uns schließen, fühlt es sich an, als lösten wir vertrauensvoll alle Leinen, als gäben wir die Kontrolle ab. Wir geben uns dem Lauf der Dinge hin, lassen uns treiben. Von Ort zu Ort, von Begebenheit zu Begebenheit. Zeit bekommt eine andere Dimension. Alle Sinne laufen auf Hochtouren. Fetzen fremder Sprachen streifen unser Ohr. Was sie wohl bedeuten? Wir freuen uns auf neue, uns unbekannte Geschmäcker. Essen ist Kultur. Wir suchen nach Geschichte und nach Geschichten. Wir streifen Verantwortlichkeiten ab und sind nur bei und mit uns. Weißt Du, was das für ein wunderbares Gefühl ist, mein lieber Freund. Zu gerne hätte ich Dich dabei.
Nun genug philosophiert. Jetzt will ich Dir erst einmal unsere grobe Route schildern. Ziel ist mal wieder unser geliebtes Pyrgos, dem wir uns immer wieder auf andere Weise nähern. Diesmal „getrampt oder mit dem Moped oder schwarz mit der Bahn“, nein, nein so nicht. Wir versuchen mit Bus und Bahn quer über den Balkan zu reisen. Unsere Stationen werden sein: Budapest, Belgrad, Podgorica, Shkodar, Prizren, Skopje, Thessaloniki, Athen, Kalamata. Nimm Dir doch einmal den Atlas aus dem Schrank (hast Du überhaupt noch einen?) schlag ihn auf und verfolge mit dem Finger unsere Route. Gefällt sie Dir? Findest Du sie langweilig oder interessant oder viel zu gefährlich? Vielleicht auch spannend? Fragen über Fragen. Du wirst sie mir beantworten.
Budapest … das Paris des Ostens. Was fällt Dir dazu ein? Warst Du schon einmal dort? Früher, als sich unsere Welt nur in Richtung Osten öffnete, war die Stadt ein Dreh- und Angelpunkt. Da kamen sie, die jungen Reiselustigen. Im Parka mit langen Loden und Latzhose. Im schweren Leinenrucksack ein Fichtelbergzelt und einen Juwelkocher und jede Menge Konserven. Von Budapest verteilten sie sich an den Balaton, die Schwarzmeerküste, in die rumänischen Karpaten, die bulgarische Gebirge Rila und Pirin. Der Musala mit seinen knapp 3000 Metern war der Gipfel des Alpinismus. Mindestens doppelt so hoch wie der Fichtelberg und für normale DDR Bürger die kürzeste Entfernung zum Mond.
An Budapests Bahnhöfen Nyugati und Keleti lagerten viele oft eine Nacht. Und für manche war die Stadt das Ziel ihrer Sehnsüchte. Tief im Hinterland des eisernen Vorhangs gelegen war sie weltoffener und weltstädtischer als alles was wir sonst kannten. Die Stadt war voll mit Antiquariaten in denen man Bücher in deutscher Sprache kaufen konnte. Objekte der Begierde, die nie in einem Bücherladen der DDR zu finden gewesen wären. In den Hinterhöfen der quirligen Metropole gab es eine Unmenge von kleinen Läden und Werkstätten die liebevoll Plagiate der heißbegehrten Westklamotten herstellten und der jugendliche Musikfan schnüffelte nach aktuellen Platten der Rolling Stones und wähnte sich im Paradies, wenn er fündig wurde. Gestern Abend saßen wir noch mit unseren Berliner Freunden zusammen. Sie waren Ende der 70er Jahre für vier Wochen auf Hochzeitreise in Budapest und verlebten eine glückliche Zeit. In den 2000ern zum 35. Hochzeitstag sind sie noch einmal dorthin gefahren. Ich wollte wissen, ob sich irgendetwas verändert hat. Sie sagten: „Beim ersten mal war alles aufregend, schillernd und spannend. Beim zweiten mal war es auch schön. Wir haben uns die Sehenswürdigkeiten angeschaut, viele Museen und die tollen Jugendstilviertel und Brücken. Aber irgendwie war es auch öde.“ Diese Aussage hat mich nachdenklich gemacht. Was denkst Du woran das liegt? Sind sie einfach älter geworden oder hat sich die Stadt verändert oder vielleicht beides zusammen?
Eins noch lieber Freund: Kennst Du die Gruppe OMEGA? Die ungarische Antwort auf die Rolling Stones. Ihr wohl größter Hit ist Gyöngyhajú lány. Übersetzt heißt das: Perlen im Haar. Da fingen früher die Mädchen in der Disko immer an zu weinen. Erinnerst Du Dich?
Ganz sicher! Hör es Dir an, nach zwei Takten wirst Du mitsingen können.
Nun nähern wir uns Budapest. Prag, Brno und Bratislava liegen hinter uns. Wie gerne wäre ich dort ausgestiegen. Ich denke, ich gönne mir etwas und trinke ein Glas Wein in der „Mitropa“ (Der Korrekturleser kommt natürlich mit und trinkt ein Pivo). Was für ein Luxus. Ich stoße an auf eine glückliche Reise und auf Dich, mein guter Freund.
Mit den allerherzlichsten Grüßen Deine M.
PS.: Ich erwarte voll Vorfreude Deine Antwort. Und auch ich schreibe Dir bald wieder.