Von Messini nach Kalamata
Unsere heutige Tour sollte ein Triumphzug werden. Einzug der Reisenden in Kalamata. Wir durchschreiten das Tor zur uns bekannten Welt. Ab hier beginnt unsere zweite Heimat. Wären wir anders herum gelaufen, hätte sich ein ähnliches Gefühl bei der Ankunft in Ludwigslust breit gemacht. Da wären wir erst einmal ins Kino Luna gegangen.
Ob wir früher mit dem Flugzeug über Athen oder später mit der Fähre über Patras kamen, wir landeten zwangsläufig in Kalamata.
Am Busbahnhof von Kalamata zu sitzen, ein kleines Fläschchen Wein zu trinken und auf den lokalen Bus nach Pyrgos zu warten, bedeutet ankommen. Ab hier begann der Urlaub. Na und genau so und noch viel schöner habe ich mir das heute morgen beim Aufstehen vorgestellt. Es ist schließlich etwas anderes, ob ich drei Stunden mit dem Flugzeug geflogen bin, mir eine Nacht auf der Fähre um die Ohren geschlagen habe oder ob ich hierher gelaufen bin. Ich sehe uns schon Hand in Hand in die Stadt einziehen. Stolz wie Bolle, selig vor Glück. Das, was Unmöglich erschien, ist nun Realität. Aus Traum ist Wirklichkeit geworden. So zumindest entspinnt sich mein Tagtraum beim Zähneputzen.
Knapp zwei Stunden später sitze ich wie ein Häufchen Elend im Bus nach Kalamata. Tränen laufen über meine Wangen. Ich weine heimlich. Am Fenster zieht der Weg vorbei, den wir heute gehen wollten. Warum gehen wir ihn nicht? Warum sitzen wir in diesem blöden Bus? Wer oder was verhinderte den Triumphzug?
Wir sind nicht alleine unterwegs. Soviel steht fest. Unsere Begleiter kann man nicht riechen, nicht schmecken, nicht hören oder gar sehen. Immer wieder tauchten sie auf, schützten sie uns, legten uns Steine in den Weg oder ließen uns staunend zurück. In der Regel kamen sie einzeln und so konnten wir in Ruhe mit ihnen verhandeln oder feilschen. Heute an der Brücke über den Fluss Pamisos auf Kilomter drei unserer Tour tauchen sie plötzlich und völlig unerwartet vor uns auf. Alle drei. Wer hat die Geister aus der Flasche gelassen, warum hier und jetzt?
Darf ich vorstellen:
Als Erstes, die eigene Begrenztheit – Schutz und Last gleichermaßen. Ihr Lieblingswort: Scheitern. Sie ist sehr streng, geht man jedoch sorgsam mit ihr um, lässt sie sich manchmal erweichen.
Der größte Widersacher unserer Reise ist der Autoverkehr – keiner hat uns mehr Steine in den Weg gelegt als dieses mörderische, gefährliche Blechmonster, welches sich wie ein Lindwurm über schwarzen Asphalt schlängelt. Was haben wir für Haken geschlagen, um ihm zu entgehen. Wie viele graue Haare sind uns gewachsen auf Kilometern unumgänglicher Straße. Und wie oft haben wir kapituliert und den Bus genommen, aus berechtigter Angst um unser Leben.
Und als letztes ist da noch die Zwangsläufigkeit von Situationen. Die Momente, an denen wir keine Wahl und keinen Einfluss mehr haben, mitgerissen werden von den Geschehnissen. Nicht einfach für Menschen, die immer alles im Griff haben wollen.
„Über diese Brücke gehe ich nicht!“, informiere ich meinen Begleiter. Es gibt kein Raum für Hähni und Huhni Gesäusel oder Diskussionen. Für mich ist die Sache unverhandelbar.
Die Brücke über das Flüsschen ist die einzige weit und breit. Sie ist äußerst schmal, zwei Fahrzeuge passen kaum nebeneinander und sie ist der einzige Weg in den Osten Messeniens. Der Verkehr rollt derart engmaschig, dass schon Minuten vergehen können, bis man überhaupt die Straßenseite wechseln kann. Am Eingang zur Brücke prangt ein rot weißes Verkehrsschild „Für Fußgänger verboten“ und in diesem Fall ist das keine bußgeldpflichtige Verordnung, sondern einfach ein ernstzunehmender guter Rat. Das musst Du Dir mal auf der Zunge zergehen lassen. Wenn Du von Messini nach Kalamata laufen willst, dann ist die einzige Möglichkeit eine unpassierbare Brücke, also keine Möglichkeit. Wenn Du wandern möchtest, dann geh bitte schön in die Berge und suche Dir einen gut ausgeschilderten Weg. Was hast Du als Fußgänger auf der Hauptstraße zu suchen? Neulich haben wir ein Gedankenspiel gemacht. Wäre es für uns als zu Fuß- Reisende vor 150 Jahren einfacher gewesen? Unser größter Feind – das Auto, hatte noch nicht das Licht der Welt erblickt. Wir wären auf alten Handelswegen gereist und die Quartiersuche wäre einfacher gewesen. Aber vielleicht hätten dann Räuber am Wegesrand auf uns gelauert oder Pest und Cholera.
Da stehen wir nun an dieser Brücke. Fangen an nach Alternativen zu suchen. Parallel zur Straße verläuft die stillgelegte Bahnstrecke. Wir könnten über die Eisenbahnbrücke gehen. Allein der Eingang ist derart mit Gestrüpp zugewachsen, dass kein Durchkommen ist. Wir könnten zurück gehen in den Baumarkt von Messini und eine Gartenschere kaufen um den Weg frei zu schneiden. Wollen wir das? Wir gehen hinunter zum Fluss auf der Suche nach einer Furt. Aussichtslos. Dunkelgrün, tief und träge dümpelt er vor sich hin.
Da stehen wir nun an der Straße. Der Verkehr rauscht permanent und das rot weiße Warnschild leuchtet. „Robert, ich weiß, Du würdest über die Brücke gehen“ sage ich traurig zu meinem Begleiter. „Würdest den Verkehr beobachten, auf eine Lücke warten und dann flinke Füße … und drüber. Es ist ja nicht einmal weit und sicher würde uns auch nichts passieren. Aber ich kann nicht mitkommen. Ich kann nicht.“ Und während ich das sage, fühle ich mich wie ein Feigling und ein Versager.
Wir treten den Rückzug an. Steuern eine kleine Haltebucht an, in der es eine Bank gibt. Noch auf dem Weg dorthin hält Robert den Daumen raus. Will über die Brücke trampen. Ich bitte ihn um Geduld. „Hähni, lass uns doch erst mal setzten. Uns sammeln, die Karte anschauen. Wie heißt der nächste Ort nach der Brücke und wie könnte die Tour von dort aus weitergehen?“ Und ich habe den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da hält ein Bus. Offensichtlich ist die Haltebucht eine Bushaltestelle ohne Schild. Der Fahrer steigt aus. Schnell muss alles gehen, hinter ihm staut sich der Verkehr. Er öffnet die große Gepäckklappe. Nimmt mir meinen Rucksack ab. Verstaut ihn achtsam. „Kalamata?“ fragt er? Und reflexartig und bestimmt antworte ich: „Kalamata!“ Robert wollte nur über die Brücke. Machte einen zaghaften Versuch, der mit meinem erleichtert, beschämten „Kalamata!“ im Keim erstickt wurde. Aber was will er denn dem Busfahrer erzählen? Bring mich nur über die Brücke. Halte bei der nächsten Gelegenheit. Überlege Dir, was das kostet und alles in einer Sprache, die er nicht spricht?
Wenig später spuckt uns der Bus in Kalamata aus. An unserem Busbahnhof. Am Tor zur Heimat. Am Beginn des Urlaubs. Den nun üblichen Wein möchte ich jetzt nicht trinken. Nehmen wir also einen Kaffee. Statt Euphorie und Triumph empfinde ich tiefe Erschöpfung.
Was wollten sie uns erzählen? Die Wächter an der Brücke über den Pamisos.
Dass der Weg entscheidend ist und nicht das Ziel? Dass das Scheitern eine hohe Kunst ist?
„Huhni, gibt es eigentlich in Kalamata ein Museum“, drängelt sich die Stimme des tiefenentspannten Menschen an meiner Seite in meine finsteren Gedanken. (Komisch, ich habe ihm schon zweimal heute die Tour vermasselt und es ärgert ihn kein bisschen).
„Ja, Hähni, gute Idee. Lass mich mal nachschauen“. Matt zücke ich das Smartphone. Es gibt ein Militärmuseum (ohne mich), ein Heimat- und Folkloremuseum (naja) und ein Archäologiemuseum. Nehmen wir das Letzte. Und während wir durch die antiken Städte und Heiligtümer schreiten, die liebevoll und interessant drapiert in einer alten Markthalle ausgestellt sind, findet eine tiefe Entspannung in mir statt.