Von Mavromati nach Messini
Es wird nun schon früh dunkel. Als wir gegen halb acht unseren Tisch in der einzigen Taverne von Mavromatti beziehen, ist die Sonne schon längst hinter den grünen Hügeln verschwunden. Die große Ebene, welche sie schützend von drei Seiten umschließen, schimmert fahl im letzten Rest des Tageslichtes. Still staunend betrachten wir dieses erhabene Stück Erde. Was sich Mensch wohl unter Paradies vorstellt? Und wie viele von diesen Paradiesen durften wir nun schon auf unserem langen Weg betreten?
Zu unseren Füßen, umgeben von abertausend Olivenbäumen, stapeln sich antike Trümmer. Touristenschwärme latschen durch antike Geschichte. Stopp! Wir sind nicht in Olympia und was sich unten in der großen Ebene schemenhaft abzeichnet, ist dermaßen faszinierend und interessant, dass ich kaum den Blick abwenden kann. Antike Säulen streben empor und bilden lange Reihen. Grundmauern von gigantischem Ausmaß deuten Tempel an, umschließen die Agora, den Markt- und Versammlungsplatz, das Herzstück jeder antiken Stadt. Übereinander angeordnete Steinsitzbänke umringen ein ovales Stück Wiese. Das muss ein Stadion gewesen sein und da ganz hinten war bestimmt das Theater.
Alles ist skizzenhaft und undeutlich. Reste eben. Und wie so häufig, verleiht das Ungenaue, das Unscharfe der Phantasie Flügel und in meinem Inneren erwacht die alte, antike Stadt Messene zu neuem Leben.
Ich sehe Menschen durch die Straßen der Stadt laufen. Sie sind gehüllt in helle Tücher, die mit Spangen und Fibeln zusammengehalten werden. Die Gesellschaft unterteilt sich in drei Klassen. Es gibt die Bürger, die Metöken (die Zugezogenen) und die Sklaven.
Die Bürger standen an der Spitze der Gesellschaft. Sie waren die Einzigen, welche ein Mitspracherecht in der Politik hatten und das Recht auf Eigentum besaßen. Allerdings gab es auch große Unterschiede innerhalb der Klasse der Bürger. Frauen und Kinder spielten in einer niederen Liga. Das antike Griechenland war ein Patriarchat, auch wenn man schlecht sagen kann, dass der Mann die Hosen anhatte. Es gab nämlich diese Art Kleidungsstück noch nicht. Frauen standen, was die Rechtlosigkeit anging, auf einer Stufe mit den Sklaven. Sie kümmerten sich um den Haushalt und die Erziehung der Kinder und hatten in aller Regel Stimme, Verstand, Herz und Mund. Das nutzte wenig, kam doch vor dem eigenen Mund der männliche Vormund. Ehemann, Bruder oder Vater befanden über die wesentlichen Fragen des Lebens. Ich frage mich manchmal, ob die Männer diese Aufgabe gern übernommen haben. Vielleicht wäre es ihnen lieber gewesen, die großen und kleinen Entscheidungen des Alltags gemeinsam mit ihrer Partnerin zu treffen. Vielleicht ist es ja äußerst anstrengend, der Herr im Haus zu sein. Aber was hatten sie schon für eine Wahl. Sie wurden ja als Junge geboren.
Ich wüsste zu gerne, wann und warum die schaurig schöne Mann/Frau Geschichte aus der Balance geriet. Ich habe ja die Bibel im Verdacht. Eva geschnitten aus der Rippe Adams und dann hat sie sich auch noch hinreißen lassen, den Apfel der Erkenntnis zu kosten. Aber ob die alten Griechen die Genesis 3 kannten? Da habe ich erhebliche Zweifel.
Vom antiken Griechenland wissen wir, dass es die Grundlagen für die moderne Sprache, Philosophie, Literatur und Theater legte. Die Werke der antiken griechischen Dichter wie Homer, Sappho und Aischylos und Philosophen wie Platon und Aristoteles, sind bis heute bedeutende literarische und philosophische Werke und haben die moderne Kultur beeinflusst.
Abgesehen davon waren die allermeisten der Alten Griechen Bauern, welche in einfachsten Verhältnissen lebten und ihre Lebenserwartung war gering. Nur knapp die Hälfte der Kinder überlebte ihr fünftes Lebensjahr. Nur ca. 40 Prozent wurden dreißig und nur gut 20 Prozent wurden 50 Jahre alt oder älter. Die Wahrscheinlichkeit, meinen 50. Geburtstag mit all unseren Freunden zu feiern, wäre also vergleichsweise gering gewesen (Der Korrekturleser merkt an, dass er es mit seinen 66 Lenzen längst hinter sich gebracht hätte. Er müsste dann nicht mehr täglich Korrektur lesen und hätte sein ewige Ruhe … !).
Die Ernährung war recht einseitig. Sie bestand aus Brot, Oliven, Käse und Hülsenfrüchten. Viele Obst- und Gemüsesorten, die wir heute untrennbar mit Griechenland verbinden - Tomaten, Gurken oder Aubergine - waren noch nicht bekannt. Fleisch und Wein gab es nur auf der Speisekarte der Reichen.
„Hähni, Fleisch und Wein waren den Reichen vorbehalten“, unterrichte ich meinen Tischgegenüber vorwurfsvoll, während der Ober ihm ein großes Steak und einen halben Liter Wein serviert (Selbstverständlich wäre ich als Korrekturleser im alten Griechenland stinkreich gewesen. Bei diesem täglichen Arbeitsaufwand wären die Drachmen nur so gesprudelt. Ansonsten möchte ich kein alter Grieche sein, sondern lieber Schweriner Antiquar im frühen Rentenalter.)
Nach Messene kommen nur wenige Menschen. Keine Reisebusse. Sie fänden nicht einmal einen Parkplatz auf der kurvenreichen engen Zufahrtsstraße.
Obwohl seit 1885 in Messene gegraben wurde, sind die eigentlichen Entdeckungen erst in den vergangenen 25–30 Jahren gemacht worden. Und es wird ständig weiter gebuddelt. Ob man da mal mitmachen darf?
Die alte Stadt beeindruckt und fesselt mich. Es ist kein ruinöses Heiligtum oder abgehalfterte Kultstätte. Es ist, es war eine Stadt. Voll Leben, voll Ideen, voll Handwerker und Gelehrten und Armen und Reichen, Kinder und Alten.
Wir können nicht verweilen, müssen weiter. Aber eins steht fest: Ich komme wieder. Und das Schöne ist, dass ist keine Spinnerei. Messene liegt quasi vor unserer Haustür. Da können wir mit dem Bus hinfahren oder mit dem Motorrad. Oder mit unseren Freunden Kerstin, Matthias und Norma. Sie kommen uns im Oktober besuchen. Ich freue mich sehr darauf.