Von Zacharo nach Kalo Nero
Die Stunde der Wahrheit ist gekommen. Ich schreibe ganz leise und denke verschämt:
Wir waren nie in Olympia!
„Also ganz so stimmt das nicht“ posaunt mein schlechtes Gewissen und geht in Verteidigung. Wir waren in Olympia. Nicht in DEM Olympia. Dem berühmten Heiligtum, wo alle hinrammeln. Da kommen Reisebusse in Kolonnen und spucken Menschen aus aller Herren Länder aus. Studienreisende, Rentner auf Kaffeefahrt, Schüler auf Abschlussfahrt, Archäologiestudenten, Kreuzfahrer auf Tagestour. Da findet eine Ortsbegehung statt, Beweisfotos für das Familienalbum werden geschossen und Selfies werden gemacht. Alles der untrügliche Beweis dafür … wir waren hier. Nach zwei Stunden steigen die Trupps dann wieder ein ins klimatisierte Gefährt und weiter geht’s. Es wartet das Orakel von Delphi, Epidauros, Mykene, Korinth … Auf den Spuren der „Alten Griechen“ nennt sich dieser Sirtaki quer über den „mythischen“ Peloponnes und ist ein Verkaufsschlager. Besonders in den Monaten September und Oktober. Da ist es nicht mehr so heiß. Und dann die Nummer mit dem Olympischen Feuer. Da wird hier eine Fackel an einem Hohlspiegel entzündet und dann in einem mehrtägigen Staffellauf zum Austragungsort der jeweiligen Spiele gebracht. Bei den olympischen Spielen 1936 in Berlin fand dieser Budenzauber zum ersten mal statt und er gilt als eine Erfindung der Nazis.
„Nun reg Dich mal nicht so auf. Das hast Du doch gar nicht nötig“, beruhige ich mein schlechtes Gewissen. „Das antike Olympia ist bestimmt ein hochinteressanter und besonderer Ort und wir wollten doch hin, wir waren voll guter Absichten.“
Naja, und dann kam eben die Sache mit der Eisenbahn dazwischen. Nach Olympia wollten wir mit dem Zug fahren. Das ist auf dem Peloponnes eine Rarität geworden. Die meisten der Gleise, welche einst die wichtigsten Orte miteinander verbanden, verschwinden in der Vergessenheit unter wuchernden Brombeeren und Gestrüpp. Pünktlich um neun kriecht das kleine Bähnchen in den Bahnhof von Pyrgos. Zwanzig Kilometer nach Osten liegen vor uns. Wir tuckern los. Es ruckelt, es wackelt, es hupt munter, Traktorfahrer grüßen. Tatamm, tatamm, tatamm, tatamm machen die Schienenstöße und die Landschaft fliegt vorüber. Auf halber Strecke bleiben wir stehen. Einfach so. Der Motor verröchelt. Der Triebwagen ist defekt. Und da sitzen wir nun. Statt der antiken Ruinen studieren wir nun das Leben. Der in die Jahre gekommene Zugführer telefoniert laut und hektisch. Sein ebenso grauhaariger Kollege mit dem sympathischen Gesicht und dem niedlichen Bäuchlein, beschwichtigt die erwartungsfrohen Olympiabesucher nach Kräften. Ein zweites Bähnchen wird geholt. Es soll uns wohl schieben. Ölverschmierte Mechaniker rennen hin und her. Die schicken hellblauen Hemden der Bahnangestellten bekommen große dunkle Flecken, der Ton wird rauer. Irgendwann setzt sich der Zug in Bewegung. Zurück in Richtung Pyrgos. Nach zwei Stunden landen wir wieder am Ausgangspunkt unserer heutigen Reise.
Als wir dann halb zwölf in Olympia ankommen, ist es für eine Besichtigung zu spät. Immerhin wollen wir noch 17 Kilometer gehen. Die Unterkunft ist bereits gebucht und es wird schon recht früh dunkel.
So trinken wir einen griechischen Kaffee im modernen Olympia, einem Ort, dessen Bestimmung darin besteht, die Unmengen an Tagesbesuchern zu verköstigen. Geistige Nahrung allein reicht bekanntlich nicht und ein Andenken könnte man ja auch noch erwerben.
Wir drehen noch einen der vielen Postkartenständer und betrachten uns das Heiligtum aus allen denkbaren Perspektiven. Da haben wir bestimmt alles gesehen. Das sollte reichen. (Hoppla, klickert es beim Korrekturleser, das kennst Du doch! Diese stadionartigen Arreale mit den unzähligen Säulenstümpfen? Hier war ich auf einer früheren Griechenlandreise als kulturbeflissener Trümmertourist unterwegs. Gut, das der Zug Verspätung hatte …).
Gestern haben wir wieder einen Pausentag eingelegt. Wenige Etappen trennen uns vom Ziel. Noch bevor der erste Schritt in Schwerin getan war, hatten wir schon über das Ankommen orakelt. Wie wird es wohl sein, wer werden wir sein im Angesicht des unvorstellbar weit entfernten Zieles?
Robert äußerte damals Bedenken. Er könnte in Hektik verfallen, in Absolvierungsnöte geraten, zwanghaft Ankommen müssen. „Mir kann so etwas nicht passieren“, verkündete ich damals und schob salbungsvoll nach: „Ich genieße jeden Augenblick, bis zum letzten Schritt“. Und die verzweifelte Drohung „wehe Du hetzt mich da durch“, konnte ich mir nicht verkneifen. Pustekuchen. Genau andersherum ist es jetzt. Hähni hat die Ruhe weg (was sonst) und Huhni verfällt in hektische Betriebsamkeit. Ich studiere die Routen, prüfe Übernachtungen auf Tage im Voraus, beäuge misstrauisch die Wetterapp. Jetzt darf uns bloß nichts dazwischen kommen.
Schaffen, schaffen, schaffen, nicht verschnaufen, -schnaufen, -schnaufen, rockt der Ohrwurm in meinem Kopf.
Dieses selbstgepackte Stresspaket liegt nun auf meinem Rucksack obendrauf und stimmt mich nicht gerade milde. Und weil mein geliebter, bester Reisegefährte immer weiß, was das Beste für mich ist (auch wenn ich zappele und aufbegehre) verordnet er uns einen Ruhetag.
Und wie schön der war. Ausschlafen, schwimmen gehen, im feinen weißen Sand am Strand sitzen, ein bisschen Griechisch lernen. Am Mittag UND am Abend waren wir essen. Und was für einen wunderbar stillen, ruhigen Ort wir gefunden haben.
Die Medizin wirkt. Heute sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Wozu die Eile? Warum nicht die letzten Kilometer schlendern? Vollbracht ist es doch bereits. Was ändern daran die letzten sieben Tage.