Von Plataria nach Parga
Lange sitzen wir gestern draußen. Es ist schön, hier in Plataria. Die ersten Kilometer auf dem griechischen Festland sind überwunden. Hier stinkt es nirgends nach Kloake, weit und breit weder Ratte noch Kakerlake, überschaubares Strandleben vor grünblauer Meereskulisse. Das Wasser aus dem Hahn ist trinkbar, die Preise moderat, unsere Herberge „Georgias little Village“ vereint Geschmack und Reinlichkeit vollendet. Und ewig weht ein kühles Lüftchen.
Georgia gesellt sich zu uns. Fragt vorsichtig, ob sie sich setzen dürfe, sie hätte so viele Fragen. Wir bieten ihr Platz und ein Glas Wein am kleinen Tisch unter dem dichten Laub der Platane.
Wir wissen nicht, wie alt diese rundliche Person mit dem gutmütigen, weichen Gesichtszügen und den melancholischen dunklen Augen eigentlich ist. Können es nur schätzen. Vielleicht fünfzig? So wie ich. Ihre Mimik lebendig, wie die eines Clowns. Etwas Abgehärmtes umspielt ihren Mund. Sie erzählt uns ihre Geschichte und es ist die deutsch-griechische Geschichte die hier, wie in Deutschland gleichermaßen hunderttausendfach geschrieben wurde.
Diese Geschichte ist alt und begann schon lange vor unserer Zeit. Bereits im Spätmittelalter strandeten die ersten Griechen in Deutschland. Die Einwanderung beschränkte sich damals jedoch auf vereinzelte Kleriker und Gelehrte sowie auf Glücksritter, die in Mitteleuropa eine bessere Zukunft suchten.
Mit dem Aufblühen des Balkanhandels im 18. Jahrhunderts bildeten sich dann griechische Kaufmannskolonien mit Zentren in Breslau, Chemnitz und insbesondere Leipzig, wo Pelzhandel und -verarbeitung wichtige Betätigungsfelder waren. Als bedeutende Universitätsstadt war Leipzig zugleich Anziehungspunkt einer damals ebenfalls zunehmenden Bildungsmigration aus Griechenland und entwickelte sich schließlich gemeinsam mit Halle zu einem wichtigen Publikationszentrum griechischer Bücher im Zeitalter der Aufklärung. Auch im 19. Jahrhundert ging die Zuwanderung tatkräftiger, griechischer Unternehmer munter weiter. Sie entwickelten vielfältige Handelsaktivitäten und etablierten sich dabei nicht zuletzt im Tabakgewerbe, dessen wichtigste Zentren in Dresden und Hamburg lagen. Das ist nun zunächst eine lange, aber zahlenmäßig unbedeutende Vorgeschichte.
Dies änderte sich grundlegend mit dem Zuzug griechischer Arbeitsmigranten, die sich seit Beginn der 1960er Jahre als sogenannte Gastarbeiter dauerhaft oder vorübergehend in Westdeutschland niederließen und deren Zahl bis 1976 auf vermutlich über eine halbe Million stieg. Und hier beginnt Georgias Geschichte. Sie wurde nämlich in Nordrhein-Westfalen geboren. Ihre Eltern lebten und arbeiteten hier. Ich betrachte die beiden alten Leutchen. Auch sie sind Teil der nächtlichen Szenerie. Sitzen still im Hintergrund auf einer Bank. Bestimmt 80 Jahre werden sie sein. Georgia kümmert sich um sie. Das ist normal in Griechenland.
Diese erste große Welle der Zuwanderung wurde von einem im März 1960 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Griechenland geschlossenen Anwerbeabkommen ausgelöst und in der Folgezeit von beiden Staaten befördert. Auf deutscher Seite wollte man damit dem Arbeitskräftemangel in der schnell expandierenden einheimischen Industrie entgegenwirken und hatte zu diesem Zweck schon mit Italien (1955) und Spanien (1960) entsprechende Abkommen abgeschlossen, worauf weitere folgten (Türkei 1961, Portugal 1964, Tunesien 1965 und Jugoslawien 1968). Der griechischen Regierung ging es dagegen darum, mit der Arbeitsmigration ein Ventil für die notorische Arbeitslosigkeit zu schaffen. Zunächst kamen nur die jungen Männer. Blieben eine Weile, pendelten zwischen Heimat- und Gastland. Dann wurde der Familiennachzug organisiert. Frauen zogen mit ihren Männern nach Deutschland. Familien wurden gegründet. Die griechischen Frauen waren zu diesem Zeitpunkt in Deutschland voll erwerbstätig und eigenständige Ehefrauen und Mütter. In Griechenland, genau wie in Westdeutschland entsprach das „eigenständig“ zur damaliger Zeit in keiner Weise der traditionellen Rollenverteilung. Sie waren somit ein wichtiger Baustein im Prozess der Neuordnung der Aufgabenverteilung zwischen Mann und Frau.
Irgendwann sind ihre Eltern nach Hause gegangen. So wie die allermeisten der griechischen Gastarbeiterfamilien. Georgia war 10 Jahre alt. Sie haben dieses Haus gebaut, welches uns nun Herberge für eine Nacht ist. Georgia geht zum Studieren nach Athen. Versucht Arbeit zu bekommen, verdient immer zu wenig Geld. Sie wird Teil einer zweiten Migrationswelle, die Ende der 80er Jahre, mit der Gewährung persönlicher Freizügigkeit für griechische Staatsbürger, in Gang kommt. Während die Mehrheit der ersten Generation Arbeitsmigranten vorrangig in der Industrie tätig war, arbeitet man nun im Dienstleistungssektor, insbesondere im Gastronomiegewerbe. Eine wachsende Zahl der Angestellten hat einen akademischen Abschluss.
Sie sei nur wegen des Geldes in Deutschland gewesen, gesteht uns unsere Gastgeberin. Und nun wollen wir unbedingt wissen, wo sie gelebt hat. „Georgia wo! Verrate uns wo. Nein lass uns raten: Frankfurt, Dortmund, Hamburg, Berlin, Stuttgart, München?“ Wir zählen all die Städte auf, die uns auf unserer Reise über den Balkan um die Ohren geflattert sind. Die kennt jeder. Da hat man schon gearbeitet oder kennt einen, der da schon gearbeitet hat oder kennt einen, der einen kennt … Sie schüttelt lachend den Kopf. „Ich habe in Dresden gelebt und gearbeitet“, verkündet sie und wir sind baff.
Sie ist die erste die wir getroffen haben, die in den frühen neunziger Jahren in die neuen Bundesländer zum Arbeiten gekommen ist. Ungewöhnlich. Absolut ungewöhnlich. Hat sie in einem neueröffneten griechischen Restaurants in dern Dresdner Neustadt gekellnert? Überall im Osten sprossen sie wie Pilze aus dem Boden damals. Mit Verschwörermine fragt sie uns, und dabei beugt sie sich ein bisschen über den Tisch: Seid ihr auch aus dem Osten? Ja, flüstern wir. Leipzig, Erfurt, lautet das Bekenntnis. Sie kennt die Städte. Nickt nachdenklich vor sich hin. „Die Leute in der ehemaligen DDR sind anders als die im Westen“, verkündet sie ihre Erkenntnis. Sie will das nicht werten. ABER im Westen haben die Leute oft schlecht über die Ossis geredet, erklärt sie uns. Das weiß sie genau, sie hat viele Freunde in Frankfurt am Main. War oft da. Ihre Kollegen in Dresden sprachen nie schlecht über Westdeutsche. So wie sie es sagt, klingt es wie ein Kompliment. Wir nehmen es zögerlich an. Ich für meinen Teil habe herzhaft gelästert über Wessis. Aber vielleicht noch nicht in den frühen Neunzigern. Damals waren wir alle noch so wahnsinnig schüchtern.