Von Orikum nach Dukat
Wir haben uns in Sicherheit gebracht. In ein kleines Restaurant in einem winzigen Dorf in den Bergen sind wir geflüchtet vor überbordender Gastfreundschaft und einer Flut von Informationen.
Unsere Wanderung hier nach Dukat war wunderschön und Nervenbalsam für meinen lieben Ehemann. Autofrei nämlich, sind wir heute unterwegs.
Auf einer alten, gepflasterten Straße queren wir eine große Ebene. Vor uns türmt sich das Ceraunische Gebirge auf. Beeindruckt schreiten wir den 2000m hohen, steinernen Riesen entgegen. Völlig unerschlossen sind die Berge. Keine schwer verheilende Straßennarben hat man hineingeschnitten. Hüttengaudi ist ein Fremdwort. Mal wieder gilt es einen tausend Meter hohen Pass zu überwinden. Aber diesen erst morgen.
Wir haben viel Zeit nachzudenken und viel Gelegenheit, unsere Gedanken auszutauschen. Hier können wir nebeneinander gehen.
„Hähni, darf man von der Mentalität eines Volkes reden?“ frage ich meinen Begleiter. Er schweigt. „Hähni, das war keine gute Frage, fangen wir noch ein bisschen früher an. Was ist Mentalität eigentlich?“ Wieder Schweigen. Was soll er auch sagen. Ich erwarte keine Antwort. Ich nähere mich einem Phänomen. „Hähni, unter Mentalität versteht man, glaube ich jedenfalls, eine bestimmte vorherrschende seelische Eigenschaft, Verhaltensweisen und Denkmuster. Und die kann man vielleicht auf eine Volksgruppe übertragen. Gibt es eine albanische Mentalität?“ „Huhni“, kommt die langersehnte Antwort, „vielleicht machst Du es zu kompliziert. Scheren wir ein Volk über einen Kamm, öffnet das Tür und Tor für Vergleiche und natürlich auch für Nationalismus.“ Darüber muss ich erst mal nachdenken. Trotzdem lasse ich nicht locker. „Dann lass uns mal Adjektive vergeben, für das, was uns die Menschen hier in Albanien entgegenbringen. Immer abwechselnd.
„Freundlich sind sie“, beginnt der angesprochene den Reigen. Ich bestätige das. Von jedem wird man hier gegrüßt und herzliches Gewinke begleitet unsere Wege.
„Hilfsbereit“, nun bin ich dran. Auch hier sind wir uns einig. In diesem Land fühlen wir uns sicher und gut aufgehoben, gehen garantiert nicht verloren. Überall wird uns geholfen.
„Ruhig und zurückhaltend“, nun ist Robert wieder am Zug. Recht hat er. Das Leben ist selbst in den großen Städten beschaulich. Man hat Zeit. Und nie hat jemand versucht uns irgendetwas aufzuschwatzen. Souvenirs oder anderes Feilgebotenes.
„Ordentlich und korrekt“. sage ich. In keinem anderen Land, durch welches wir kamen, wurde soviel gekehrt und gefeudelt, waren die Gärten und Häuser gepflegter als hier. Und nie wollte uns einer bescheissen. Nicht mal im Ansatz.
„Fleißig“, wird der nächste Ball in den Raum geworfen. Stimmt. Die Leute arbeiten emsig. Im Garten, in den Restaurants und Läden, auf dem Feld oder eben im Ausland auf dem Bau oder im Schlachthof.
„Friedlich“, fällt mir als letztes ein. Etwas, was wir nur spüren im Wesen dieser grundguten Menschen. Die Geschichte beweist es uns. Niemals ging ein Krieg von albanischem Boden aus. Der letzte Bunker auf albanischer Seite stand soweit von der griechischen Grenze entfernt, dass kein versehentlicher Schuss hätte auf fremden Territorium landen können. Zu Zeiten des Dritten Reiches versteckte man Juden und verhalf ihnen zur Flucht über die Häfen in Durres, Vlora oder Sarande.
Gegen drei erreichen wir unsere Unterkunft. Mal wieder ein Campingplatz. Camping albanisch. Mal sehen, was uns erwartet. Wie lange haben wir schon nicht mehr gezeltet? „Hähni, ich hoffe Du hast unser Zelt nicht irgendwo unterwegs im Schrank einer Ferienwohnung vergessen“, scherze ich.
Camping albanisch ist vor allem eins: Ein großer Gemeinschaftstisch in der Mitte eines kleinen Platzes. Dieser steht noch voll mit den Rakigläsern vom gestrigen Abend. Und flugs sitzen wir daran. Der alte Lorik bringt Kaffee und Raki, Juliane und Erik, vielleicht 30 Jahre mit ostdeutschen Wurzeln, werden herbeigeholt, Erion aus dem Kosovo dolmetscht mit bayrischem Akzent. Lebensgeschichten sprudeln wie klares Gebirgswasser aus unentdeckten Quellen. Und wir erfahren viel über das Leben in Albanien. Früher und heute. Ein wahrer Schatz. Aber jetzt müssen wir erst mal weg hier. Es ist mehr, als wir verarbeiten können, auch an Alkohol. Wir entschuldigen uns mit dem Vorwand, erst mal etwas essen zu müssen. Gehen in die kleine Dorfkneipe. Hier sind wir in Sicherheit vor neuen Eindrücken. Glauben wir. Nun wird das Essen serviert. Was essen wir hier eigentlich? Und wie lustig sind die alten Männer am Nachbartisch, die in Windeseile einen Raki nach dem anderen kippen und darüber immer fröhlicher werden?