Von Lepetane nach Pelinovo
Das war zu viel!
Ich sitze irgendwo in Montenegro am Straßenrand und heule wie ein Schlosshund. Schluchze, kann mich kaum beruhigen. Noch vor zehn Minuten rannen mir Schweißperlen in großen Strömen über den Körper, nun fließen Tränen in Bächen aus meinen Augen.
Was ist geschehen? Bergauf sind wir gegangen. Höher und höher im Winkel der steigenden Sonne. Es ist kein schlechter Weg, den wir gefunden haben. Ein schmales Asphaltband von Dorf zu Dorf. Oft schattig durch Bäume und Wald am Wegesrand.
„Hähni“, frage ich meinen Gefährten, „wann haben wir das letzte Mal echte Bäume gesehen? Kiefern, Eichen, Buchen 20 – 30 Meter hoch? In Sachsen, in Tschechien, in Österreich, irgendwann kurz vor Monfalcone hörte es dann auf. Es wurde mittelmeerig. Kein Baum mehr höher als 5 Meter.“
Und dann war das Sträßchen plötzlich zu Ende. Man kann kaum beschreiben, welches Bild sich darbot. Eine riesige Gerölllawine tat sich vor uns auf. Es war, als habe sich der gesamte Fels auf die Straße verschoben. Da, wo einst die Straße lag, türmen sich Felsen. Das Geröll ist in steilem Strom ins tiefe Tal geschossen.
Es fehlt mir an Phantasie mir vorzustellen, was da passiert ist, und ich bin ziemlich froh, dass ich das nicht miterleben musste.
Wie vom Donner gerührt starren wir auf die Steinwüste. Dahinter, einen Steinwurf entfernt, leuchten die roten Dächer des nächsten Dorfes und Hunde bellen eifrig.
Wir können doch nicht umkehren. Ich fummele am Navigationsgerät herum. Das würde bedeuten, zwei Stunden in die Richtung zu gehen, aus der wir gekommen sind.
Das kommt nicht in die Tüte. In mir erwacht der Trotz. Ich muss einen Weg finden. Und ich finde einen. Irgend ein Pfad zeichnet sich da ab. Ich werde es versuchen. Wir haben noch nie vor Hindernissen dieser Art kapituliert! „Hähni, Du wartest und wenn ein Durchkommen ist, dann hole ich Dich.“
Und ich steige los. Links von mir der Fels, unter meinen Füßen feines Geröll. Steil geht es rechts herunter. Ich will gar nicht hingucken. Meine verkrampften Hände halten sich an den Felsvorsprüngen, meine Beine zittern leicht, der Rucksack wiegt Tonnen. Auf jeden Schritt folgt ein Zurückrutschen.
Ich will nicht darüber nachdenken, was passiert, wenn ich hier abschmiere, und auch nicht, ob ich hier je wieder runter komme, falls es hinter der nächsten Ecke nicht weiter geht. Oben angekommen, kann ich um den Felsvorsprung herum linsen. Aus Geröll werden große Brocken. Irgendetwas zwischen fußballklein und mannshoch. Es geht weiter, soviel ist klar, aber ob es ein gutes Ende nimmt, ist nicht absehbar. Bevor ich aus Roberts Gesichtsfeld verschwinde, ich sehe ihn schon ganz klein unter mir, winke ich ihm zu.
„Komm nach“, soll das heißen. Eindeutig ist es nicht. Ich weiß nicht, ob es weiter geht, ich will nur auf keinen Fall wieder zurückgehen über diesen Steinhaufen, der immer noch ordentlich steil hinauf führt. Hinter der nächsten Felsnase ist es geschafft. Noch ein bisschen bergab und meine Füße stehen wieder auf sicherem Boden.
Ich schmeiße meinen Rucksack ins Gras, mein Hemd ist pitschnass. Ich bin zu erschöpft um mich zu freuen. Trinke einen Schluck, warte auf Robert. Allein:Er kommt nicht. Kommt einfach nicht.
„Er wird doch nicht…“, denke ich verzweifelt, „er wird doch nicht immer noch da unten stehen und auf ein Zeichen warten?“
Wütend stapfe ich los. Zornestiraden überschlagen sich in meinem Kopf. Zurück über den Mond, zurück zu der Ecke, an dem ich ihm so unentschieden gewunken habe. Tatsächlich. Da unten steht er. Die Hände in die Hüften, schaut er von rechts nach links und sein rotes Stirntuch leuchtet optimistisch. Wütend brülle ich hinunter: „Mann, warum kommst Du denn nicht?“ Wedele wieder mit den Armen. Diesmal ist es eindeutig. Er stapft los, aber der Haussegen hängt schief.
Am Ende sitzen wir im Schatten eines Olivenbaums am Straßenrand. Ich exerziere das ganze Programm durch.
Überhitzter Vorwurf: Wie kannst Du so blöde unten rumstehen, während ich mich da abmühe. Du kannst ja wohl mal ein bisschen mitdenken. Immer muss ich mich um alles kümmern. Wahrscheinlich hättest Du da bis zum Sonnenuntergang gestanden und ich zerschellt am Grunde der Schlucht gelegen. Ich frage mich, wann Du überhaupt mal auf die Idee gekommen wärest, nach mir zu schauen.
Geht über in wehleidiges Selbstmitleid: Für Dich, Robert, ist alles einfach und für mich alles schwer. Du machst es Dir eh immer leicht (gehört noch in den Bereich des abklingenden Vorwurfs). Du machst Dir um nichts Gedanken, hast vor nichts Angst und geniest die Reise. Ich muss mir ständig Sorgen machen, alles planen, navigieren, Wege finden, Unterkünfte buchen, Busfahrpläne auskundschaften, Geldautomaten melken, für Nahrung sorgen. Warum ist die ganze Last so ungerecht verteilt?
Endet in erschöpfter Resignation. „Hähni, warum? Warum tun wir das alles?“ An dieser Stelle brechen sich die heilsamen Tränen Bahn. Diese ganze bekloppte Reise. Können wir nicht Urlaub machen wie normale Menschen? Einen Mietwagen, fest gebuchte Unterkünfte oder noch besser, ein kleines Wohnmobil. Kleines Zuhause, sicherer Ort auf vier Rädern.
„Huhni, wir machen diese Reise, weil wir sie machen müssen, weil wir so gestrickt sind“, erhebt Robert seine Stimme. Erst jetzt, wo das Schluchzen meinen Wortschwall erstickt, hat er überhaupt eine Chance, etwas zu erwidern. „Und Deine Zeichen oben auf dem Berg konnte ich nicht sehen, weil die Sonne so geblendet hat, Du weißt ja, meine Augen. Komm her, Huhni“, sagt er zärtlich und nimmt mich in den Arm. Ich bewundere ihn, wie er mich aushält.
Die Stimmung bessert sich schnell. Im nächsten Ort (die wundern sich bestimmt wo wir herkommen, von dieser Seite des Tales ist sicher lange keiner mehr heraufgestiegen) kaufen wir uns eine Limonade im winzigen Dorfladen. Es ist kein Studenac Market, was uns nicht im geringsten wehleidig stimmt. Wir sitzen, schlürfen unser kaltes, süßes Getränk, betrachten die wunderschönen Berge, den Wald das Meer. Wir haben unser Herz verloren an Montenegro.