Von Rogoznica nach Gustirna
Ich habe meinen Frieden gemacht mit den Geistern der vorletzten Nacht. Immer wieder tanzen sie ihren Reigen durch die dunklen Stunden des Tageslaufs und rauben mir den Schlaf. Nicht nur auf Reisen. Ihre Gestalt variiert, zum Glück. Die Zweifel sind vielgestaltig. Der letzte hieß: „Womit habe ich das verdient?“
Warum kann ich es mir leisten, durch Europa zu wandern, auf meine Art und Weise? Auf die einzige Art und Weise, wie ich es bewältigen kann. In kleinen Schritten immer dicht am Rande der Zivilisation. Wir können nicht 20 Kilogramm Gepäck inklusive Wasser und Nahrung durch die Wildnis tragen, um irgendwo in der Macchia unser Zelt aufzuschlagen. Wir müssen am Ende des Tages ankommen. In einer menschlichen Siedlung, da, wo es einen kleinen Laden gibt, freundliche Menschen, einen sicheren Ort. Das alles hat seinen Preis. Der grüne Schein eben. Geld, das wir uns nicht hart verdient haben. Mein ganzes Leben habe ich nie gearbeitet. Zumindest mein Tun nie als solches empfunden. Immer nur Musik gemacht und hatte trotzdem kein Mangel an Geld.
„Womit habe ich das verdient?“
Warum muss ich mir etwas verdienen? Entspringt dieser tief in mir sitzende Gedanke, dem kollektiven Bewusstsein der Unterschicht, der Ausgebeuteten? Studiere ich meinen Stammbaum, dann finden sich bis ins 17. Jahrhundert Tagelöhner, Schäfer und Bergleute. Meine Urgroßväter waren Kommunisten der ersten Stunde, vereint im Kampf um bessere Arbeitsbedingungen für die Kumpel im Kalibergbau in der Rhön. Meine Gedanken also die des typischen Untertan?
Heute sind wir nach Gustirna gewandert. Heute mal kein Meer, kein Trubel, kein Halligalli. Ein kleines Bergdorf ist unser Ziel. Gegen Mittag, nach ruhiger Wanderung über schöne Wege, kommen wir hier an. Im Schatten eines alten Olivenbaums haben wir gefrühstückt. Gezielt steuern wir den Studenac-Market, das Herzstück des Dörfchens an. Wir wissen, dass es ihn gibt und normalerweise hat er heute bis 13:00 Uhr geöffnet, informiert uns Google. Normalerweise! Und weiter, dass die Öffnungszeiten heute abweichen können. Heute ist irgendein Nationalfeiertag und wenn die Bude zu hat, dann sitzen wir abends auf dem Trockenen und mümmeln an den kläglichen Überresten unseres Frühstücks.
Heute ist Unabhängigkeitstag. Am 25. Juni 1991 erklärten Slowenien und Kroatien ihre staatliche Souveränität von Jugoslawien.
Die direkte Folge war der 10-Tage-Krieg. Ein vom 26. Juni bis zum 7. Juli 1991 andauernder militärischer Konflikt zwischen der Jugoslawischen Volksarmee und der slowenischen Territorialverteidigung. Er gilt als Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien. Davon haben wir bereits gehört, auf unseren Streifzügen durch das slowenische Nova Gorica. Der geteilten Stadt. Altehrwürdiges Österreich-Ungarn trifft auf Titos Retortenstadt. Nach wenigen Tagen endete dieses Scharmützel durch das Abkommen von Brioni.
Am 7. Juli 1991 verpflichteten sich Slowenien und Kroatien für drei Monate zur Aussetzung ihrer am 25. Juni 1991 einseitig erklärten staatlichen Unabhängigkeit. In der so gewonnenen Zeit sollten die Führungen beider Länder mit den jugoslawischen Staatsorganen über eine friedliche Lösung des Konflikts verhandeln.
Was war Jugoslawien zu diesem Zeitpunkt?
Der ultranationalistische Serbenführer Slobodan Milošević? Oder das Volk der Serben, das zu mehr als einem Drittel nicht auf serbischem Staatsgebiet lebt, sondern in Teilen Bosniens und Kroatiens? Und im Kosovo mit seiner albanischen Bevölkerungsmehrheit, die selbst nach Souveränität von Serbien strebt? Tür an Tür. Freund mit Freund?
Der nicht minder die Völker polarisierende und aufwiegelnde erste kroatische Präsident Franjo Tuđman. 1922 geboren, einst Partisan an Titos Seite. In Ungnade gefallen in den 60ern wegen überbordendem Nationalismus.
Das erste von vier grausamen Kapiteln des Jugoslawienkrieges wird geschrieben. Es folgen der Kroatien-, der Bosnien-, der Kosovo-Krieg.
Gegen Mittag sitzen wir unter dem Wellblechdach des geöffneten Studenac Market und trinken ein Bier. Der Unabhängigkeitstag interessiert hier niemanden. Gut für uns. Wir sind nicht die einzigen, die sich hier in Ermangelung einer Kaffeebar treffen.
Frauen schlüpfen in das Lädchen und kommen wieder heraus mit Tüten voll Waschmittel, Tomaten, Kaffee, Joghurt – Dinge des täglichen Bedarfs. Männer knattern helmlos und in Badelatschen auf dem Mofa heran, holen ein paar Päckchen Zigaretten und trinken geschwind eine Büchse Cola.
Und ein paar dunkle Typen, Typen wie wir, hängen gemeinsam ab und trinken Bier.
Vertraute slawische Wortfetzen dringen an unser Ohr. Das kennen wir doch aus dem Russischunterricht.
„Hähni, was ist eigentlich Serbokroatisch? Oder anders - gibt es eine jugoslawische Sprache?“